Wielander im Keller und auf dem Dach – Kurzgeschichte

von Maja Roedenbeck

Wusch, wusch, wusch fegen Wielanders Filzpantoffeln über die Steinstufen, als er hastig die zwei halben Treppen in den ersten Stock hochsteigt. Behängt mit einem offen umher schwingenden, graubraun karierten Morgenmantel, unter dem er nichts als ein Set Feinrippunterwäsche trägt, will Wielander nur mal kurz nach seinem Obermieter Hoffmeier sehen. Denn obwohl er sich bis vor wenigen Minuten ebenso köstlich wie lautstark über ein furzendes Kleinkind in „Upps! Die Superpannenshow“ amüsiert hat, ist ihm ein ungewöhnliches Poltern aus Richtung der Zimmerdecke nicht entgangen. Etwas äußerst Schweres muss im Hoffmeier’schen Zweiraumappartement zu Boden gegangen sein. Sicher, die meisten Menschen würden erst mal abwarten, was weiter passiert, um die Angelegenheit dann zu vergessen oder unter Umständen sogar später nachzusehen, aber wie leicht kann später zu spät sein. Wielander ist einer, der erhebt sich in solchen Fällen selbst aus der behaglichsten aller Lebenslagen und macht sich sofort auf den Weg.

„Hoffmeier?“, ruft er, da hat er die sechzehn Stufen noch nicht ganz geschafft: „Hoffmeier?“ Seine Pantoffeln machen noch ein paar Mal wusch, wusch, wusch, Wielander japst dazu ohne jedes Taktgefühl und dann ist er an Hoffmeiers Tür angelangt. „Hoffmeier!“, brüllt er und spart sich das Anklopfen, drischt lieber gleich gewichtig mit der Faust drauflos. Von drinnen keine Antwort, keine Schritte, geschweige denn eine einladende Geste. Die Stille stürzt Wielander in ein schier aussichtsloses Dilemma: noch mal die Faust bemühen oder doch lieber gleich in den Keller laufen und die Axt zum Aufbrechen der Tür herbeiholen? Faust oder Axt? Unbestrittenermaßen geht es hier nicht mit rechten Dingen zu: Hoffmeier ist sonst ein ruhiger Zeitgenosse, mal abgesehen davon, dass es in seinem Zweiraumappartement auch gar nichts gibt, womit es sich poltern ließe. Also: Faust oder Axt? Einerseits hat die Faust schon beim ersten Mal versagt, andererseits könnte es zu spät für Hoffmeier sein, ehe Wielander umständlich in den Keller hinunter und wieder hinauf gelaufen ist. Unentschlossen setzt er zu einer Hundertachtziggradwende an, der Morgenmantel schwingt in seinem faden Braungrau, aber doch auf gewisse Weise elegant mit ihm herum. Nach hundertundzehn Grad verliert die Drehfigur an Spannung, Wielander zögert wieder, hebt die Faust, lässt sie sinken, hebt die Faust, lässt sie sinken, läuft zur Treppe rüber und die Stufen hinab.

Wusch, wusch, wusch fegen die Pantoffeln durchs Erdgeschoss, an seiner offen stehenden Wohnungstür vorbei. Zwar scheint das Licht aus der Diele ins Treppenhaus hinein und dahinter spuckt der Fernseher dem leeren Sessel in einem fort ausrutschende Tanzpaare entgegen, aber jetzt ist – auch wenn es Wielander in den Fingern juckt – nicht die Zeit, um sich gegen Stromverschwendung zu engagieren. Er ist in einer dringenderen Mission unterwegs. Es ist auch keine Zeit, den Schlüsselbund vom Gürtel des Blaumanns loszuhaken, der über dem Hocker im Schlafzimmer hängt, und die Wohnungstür ordnungsgemäß zuzuziehen. Schon gar keine Zeit, sich hinter den heruntergelassenen Jalousien vor dem jugendlich ungedämpften Sommersonnenlicht zu verbarrikadieren, das Wielander hier draußen gnadenlos vorführt, wie welk seine Lebensfreude geworden ist. Hilft alles nichts, die Axt steht im Keller, und da muss er jetzt hin.

Die Kellertreppen bestehen aus demselben Steinmaterial wie die Flurtreppen, nur sind sie ungeschliffen, naturbelassen wie man so schön sagt. Die Pantoffeln machen daher nicht mehr wusch, wusch, wusch, sie machen padd, padd, padd, sechzehn Mal, dann ist Wielander an der Gittertür, die aus feuerschutztechnischen Gründen nie geschlossen werden darf, wie ein Schild auf Augenhöhe besagt, nur warum dann eine Gittertür. Padd, padd, padd, an die Abwasserrohre gelehnt stand doch immer eine herrenlose Axt, und ja wirklich, da steht sie, Wielander greift sich das Ding. Ist schwerer, als man denkt, aber doch nicht so schwer, dass sich sein Padd, Padd, Padd zurück zur Gittertür unter der Last irgendwie anders anhören würde, nein, das tut es nicht. Wielander ist ja auch noch gut bei Kräften, zwar jetzt schon über siebzig, aber er gibt hier wie eh und je den Hausmeister, zahlt dafür nur die halbe Miete. Leiter rauf, Glühbirne auswechseln, Leiter runter, Kabeltrommel abrollen, Rasenmäher in den Vorgarten schleppen, Kabeltrommel einrollen, das alles lässt ihn rüstig erscheinen, auch wenn es natürlich eine Farce ist.

Klack macht der Lichtschalter, flupp machen die Neonröhren an der Kellerdecke unisono und mit einem Mal ist es finster. Wielander steht genau auf halber Strecke zwischen dem Lichtschalter an den Abwasserrohren, von wo er die Axt geholt hat, und dem Lichtschalter an der Gittertür, wohin er unterwegs ist. Pidd, padd, pidd, padd macht es, weil Wielander ein wenig herumtänzelt, er kann sich wieder nicht entscheiden. Aber das ist auch nicht mehr nötig, das Licht geht schon von allein an, das heißt, natürlich nicht von allein, vielmehr hat es jemand angemacht. Der Jemand kommt in den Keller, klock, klock, klock, Pantoffeln trägt er nicht. Es ist, da kommt der Jemand um die Ecke, Oma Trudchen in ihren Holzpantinen.

„Heilige Maria, da sind Sie ja, Herr Wielander!“, ruft Oma Trudchen, die alle im Haus so nennen, weil keiner weiß, wie sie eigentlich wirklich heißt. Irmtrud, Gertrud, Waltraud, man müsste mal auf den Briefkasten gucken, ob da zumindest die Initialen stehen, denkt Wielander zum wiederholten Male. Aber nicht jetzt, jetzt wartet eine dringende Angelegenheit auf Erledigung. Nur welche war das gleich? Treppauf, treppab, Licht an, Licht aus, offene Wohnungstüren, verschlossene Wohnungstüren und nun noch Oma Trudchen: Heinz Wielander ist, gelinde gesagt, ein wenig verwirrt. Schaut an sich herunter wie er da so im Keller steht, der Morgenmantelstoff hängt traurig herab, die Feinrippunterwäsche sieht im Neonlicht ungewaschen aus und in der Hand, ja, in der Hand hält er eine Axt. Wie die da hinkommt, das weiß er wohl noch, er hat sie bei den Abwasserrohren geholt, nur warum, das weiß er nicht mehr. Er weiß nur, er ist in wichtiger Mission unterwegs gewesen und er muss sich auch gleich wieder aufmachen. Irgendwas wird er mit der Axt vorgehabt haben, also sollte er sie wohl besser mitnehmen, er hat sie ja sowieso schon in der Hand. Die Filzpantoffeln wollen gerade wieder loslegen, padd, padd, padd die Treppe hinauf, doch Oma Trudchen stellt sich Wielander in den Weg und ruft in ihrer Aufregung, obwohl sie direkt neben ihm steht und es im Keller immer gleich so hallt, mit entsetzlich schriller Stimme: „Heilige Maria, Herr Wielander, ich dacht: Weiß der Henker, was mit dem ist! Seine Wohnungstür steht ja offen! Ich dacht, da sind die Einbrecher drinnen und haben den totgeschlagen, ganz bestimmt, ich dacht: Rufst du jetzt die Polizei, Hiltrud? Dann dacht ich: Nee, gehst du mal erst selber gucken, und sehen Sie, gut, dass ich gekommen bin, da sind Sie ja, im Keller, mit einer Axt, was wollen Sie denn…“

Oma Trudchen hört nicht auf zu schwatzen, doch Wielander geht die Konzentration schon kurz nach ihrer ersten Atempause flöten. Die paar Worte reichen, um ihn vollends durcheinander zu bringen. Was für ein Schlamassel. Seine Wohnungstür steht offen und versetzt die Mieter in Panik. Dass ausgerechnet ihm so was passieren muss. Einem Hausmeister, der die Ursache für einen Tumult im Gebäude liefert, anstatt für Ordnung zu sorgen, dem nehmen sie ihm am Ende noch den Posten weg und die mietreduzierte Erdgeschosswohnung gleich dazu. Wielander schiebt Oma Trudchen unwirsch beiseite und joggt, die Axt geschultert, padd, padd, padd zur Gittertür. Dann wusch, wusch, wusch, über den polierten Stein, wohin genau weiß er selbst nicht recht. Ihm sticht ein eingefallenes, rotes Geranienkrönchen unter dem Heizkörper im Eingangsbereich ins Auge. Wie das wohl dorthin kommt, er hat doch heute Mittag erst staubgesaugt. Kaum ist es Abend, liegen schon wieder Blütenblätter herum und singen hysterisch vom Sommer. Oder ist es am Ende noch Vormittag und das Staubsaugen steht ihm noch bevor? Wie auch immer, Wielander kann Geranien nicht ertragen. Die sind ihm zu munter. Widerwillig hebt er das Krönchen auf, schaut es an, schaut sich um, erblickt seine offen stehende Wohnungstür und gegenüber die offen stehende Wohnungstür von Oma Trudchen. So viel Unregelmäßigkeit auf einmal raubt ihm den Atem. Und überhaupt: Von Oma Trudchens Holzpantinen ist nichts mehr zu hören. Vielleicht steht sie im finsteren Keller und findet den Lichtschalter nicht oder ihr Herz hat die Aufregung nicht verkraftet, jedenfalls hat Wielander plötzlich furchtbar viel zu tun: Er muss in seine Wohnung, den Schlüsselbund holen, damit er die Tür schließen kann, er muss in Oma Trudchens Wohnung nach dem Rechten sehen, und möglichst auch dort einen Schlüssel finden, damit er die Tür schließen kann. Er muss dringend in den Keller zurück und Oma Trudchen suchen, aber vor allem muss er herausfinden, warum er eine Axt mit sich herumschleppt.

Wielander ist ganz erschöpft, es kommt ihm vor, als sei er schon seit Tagen im Haus unterwegs. Er weiß nicht mehr, ob er noch zweiundsiebzig ist oder bereits dreiundsiebzig, und ob ihm eine Brille helfen würde, sich in dem Schlamassel zurechtzufinden. Er hat immer noch keine Antwort auf die Frage nach der Tageszeit gefunden und überlegt auch, ob er heute schon seine Runde im achten Stock gedreht hat, um das Oberlicht zu schließen, das die jungen Leute aus den beiden Maisonettewohnungen nach dem nachmittäglichen Sonnenbaden auf dem Dach gern ausgehakt lassen. Was eine entsetzliche Plage ist, weil es dann beim nächsten Sommergewitter reinregnet und Wielander Lappen und Eimer in den achten Stock schleppen und auf die Knie gehen muss, was ihn in den Knochen schmerzt, und wischen, was ihm Schwindelgefühle bereitet. Es hilft nichts, er wird die Runde in den achten Stock noch einmal machen müssen, auch auf die Gefahr hin, dass er sich wiederholt. Hätte er doch bloß für einen Moment verzagend den Kopf hängen lassen, dann wären ihm seine Feinrippunterwäsche aufgefallen, sein ausgeblichener Morgenmantel und die Filzpantoffeln, er hätte ja bloß mal hinhören müssen, wusch, wusch, wusch, dann hätte er gewusst, dass er die Runde schon gemacht hat, denn er ist zwar ein älterer Herr, der sich für niemanden mehr schmücken muss, aber Feinrippunterwäsche, Morgenmantel und Filzpantoffeln zieht er doch erst an, wenn alles erledigt ist und ihn außer „Upps! Die Superpannenshow“ nichts weiter erwartet.

Langsam wird Wielander, der sich sonst durch nichts so leicht aus der Ruhe bringen lässt, verdrießlich. Er ist unfreiwillig auf diesem Marsch unterwegs und es ist kein Ende in Sicht, soviel steht fest. Er schaut die Treppe zum ersten Stock hinauf, glaubt aber nicht, dass er da oben etwas finden würde, das ihn weiterbringt. Das Oberlicht im achten Stock muss warten, Oma Trudchen im Keller auch, denn Wielanders gesamter Frust entlädt sich plötzlich über das Geranienkrönchen, das er immer noch in der linken Hand hält, während ihm die rechte allmählich unter der Axt erlahmt. Mit einer gehörigen Portion Wut im Fuß tritt er die gläserne Eingangstür auf, die eingeschüchtert in der Bodenvorrichtung einrastet und als dritte und letzte Tür im Erdgeschoss offen stehen bleibt. Für einen Moment spürt Wielander zwar irritiert den Luftzug zurückkommen und sieht das doppelte Panzerglas auf sich zurasen, fühlt einen Schlag gegen die Stirn und meint, den Boden unter den Füßen zu verlieren. Merkt wie sich die Axt aus seinem Griff löst und in seine Magengegend gräbt, aber als er den Blick bewusst nach vorn richtet, steht die Tür nach wie vor offen.

Wielander läuft aus dem Haus, die drei Eingangstreppen hinunter und quer durch den Vorgarten. Überall liegen Geranienkrönchen im gestutzten Gras, und als er den Kopf in den Nacken legt, sieht er sie zu Dutzenden aus den Balkonkästen herabsegeln. Er droht ihnen mit der Faust, zertrampelt mutwillig jedes Blütenblatt, das ihm unter die Füße kommt. Das Sommerabendlicht sticht nicht mehr ganz so grell, aber die drückende Hitze klebt hartnäckig am Haus. Wielander verliert beim Umsichtreten seine Filzpantoffeln, läuft ohne Fußkleidung weiter auf den warmen Bürgersteig und dann plötzlich in die Luft hinein, wo seine Schritte überhaupt keine Geräusche mehr verursachen. Wielander folgt einer Aufwärtsspirale vor der Fassade in Richtung Hausdach, einer Art Wendeltreppe ohne Stufen und Geländer. Nicht, dass er sich darüber wundern würde, über diesen Punkt ist er heute nun wirklich längst hinaus. Bald kann er die Dachkante sehen und oben sitzt, mit den Beinen baumelnd, Alfons Hoffmeier und winkt ihm zu. Was um Himmels Willen hat der da oben verloren? Ob der was mit dem ständig ausgehakten Oberlicht im achten Stock zu tun hat?

„Hoffmeier, was suchst du denn da oben?“, ruft Wielander, und dann fällt ihm alles wieder ein: die Superpannenshow, sein Lachanfall, die merkwürdigen Geräusche aus der Wohnung seines Obermieters. Was für eine Erleichterung, Hoffmeier zu sehen! Mal abgesehen davon, dass er sich aus ungeklärten Gründen auf dem Dach herumtreibt, scheint mit ihm alles in Ordnung zu sein. Nun grinst er auch noch, streckt Wielander die Hand entgegen und ruft zurück: „Mensch Heinz, wer hätte das gedacht? Wir beide am selben Tag! Ein Glück, dass ich mich noch nicht auf den Weg gemacht hab!“ Mit großer Geste zeigt er in Richtung einiger vorbeiziehender Wolken. „Was? Wieso wir beide am selben Tag?“, fragt Wielander verwirrt und zieht sich mit Hoffmeiers Hilfe auf die Dachkante. „Na, was glaubst du denn, was du hier oben tust?“, fragt Hoffmeier spöttisch zurück, „Ich für meinen Teil bin unters Bücherregal geraten, hab’s selbst umgerissen, als mir plötzlich schwarz vor Augen wurde und ich mich irgendwo festhalten musste. Also, ich fall hin, das Regal auf mich drauf, ich spüre zwar einen Schlag auf den Kopf, einen Luftzug im Hirn und dann ein Gewicht auf meinem Körper, aber keinen Schmerz. Das nächste, woran ich mich erinnere, ist dass ich durchs Treppenhaus nach unten gehe, Oma Trudchen im Keller schwatzen höre, dass ich aus der Eingangstür trete und ganz zufällig auf diese unsichtbare Wendeltreppe Richtung Dach gerate. Na, da ist doch alles klar! Und es ist mir nur recht so! Wollen wir los?“

Wielander weiß nicht, was er von alldem halten soll. Bei Hoffmeiers fidelem Anblick hat er kurz gehofft, er könne endlich mit dem Herumgerenne aufhören und es sich wieder in seinem Fernsehsessel bequem machen. Im nächsten Moment scheint es nun, als stünde ihm die große Reise erst noch bevor. Aber selbst wenn er wollte: Er kann doch nicht fortgehen, ehe er nicht seine Wohnungstür geschlossen und nach Oma Trudchen gesehen hat! Vielleicht gibt es, wenn das Oberlicht im achten Stock wie immer ausgehakt ist, eine Möglichkeit, noch einmal vom Dach herunterzukommen? „Geh du schon mal vor“, sagt er zu Hoffmeier und kommt sich reichlich spinnert dabei vor, „ich komm dann gleich nach.“ Zisch, ist er allein.

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3 thoughts on “Wielander im Keller und auf dem Dach – Kurzgeschichte

  1. @Quarterlifecrisis: Es ist schön, dass sich im deutschsprachigen Raum endlich jemand mit diesem Thema auseinandergesetzt habe. Auch ich habe lange darunter gelitten und in Ihren Büchern Zuspruch gefunden

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