Wenn man eine Netflix-Serie, nachdem man sie zu Ende gebinged hat, sofort noch einmal von vorne anschauen muss, dann hat sie etwas in einem ausgelöst. „Supersex“ ist entgegen manch anderslautender Kritik so eine Serie, die ihr Publikum fasziniert zurücklässt – wenn es bereit ist, sich vorurteilsfrei auf die Lebensgeschichte des Pornostars Rocco Siffredi einzulassen.
Idealerweise im italienischen Originalton mit Untertiteln für noch mehr Authentizität und Intensität. Beim zweiten Ansehen fällt dann auch der Cameo-Auftritt des echten Rocco Siffredi als Restaurantgast auf.
Oberflächlich ist der Handlungsstrang der sieben Episoden von „Supersex“ schnell erzählt. Es gibt einen Jungen aus ärmlichen Verhältnissen, in denen Kriminalität, Gewalt und enge, konservative Familienstrukturen an der Tagesordnung sind. Der entgegen aller Wahrscheinlichkeit zum weltbekannten, preisgekrönten Pornostar wird und sich dabei von seinen Angehörigen und denen, die ihn lieben, entfremdet. Doch „Supersex“ ist mehr als das. Es ist eine Geschichte über einen Mann, der nicht nur mit vier- oder fünftausend (je nach Quelle) Menschen vor der Kamera Geschlechtsverkehr hat. Sondern der im Laufe seines Lebens Gefühle für Frauen mit verschiedenstem Naturell entwickelt, ihnen mit einer jungenhaften Neugier begegnet und oft lebenslang verbunden bleibt.
Eine Familie, die irgendwie zusammenhält
„Supersex“ ist auch eine Geschichte über eine ebenso treue wie toxische Geschwisterbeziehung. Über zwei Halbbrüder, die sich gegenseitig bewundern und brauchen. Und die sich gleichzeitig in den Abgrund ziehen und davon abhalten, im Leben wirklich anzukommen. Es ist die Geschichte einer Familie, die wie jede Familie dieser Welt versucht, mit den Träumen und Schicksalen des Nachwuchses umzugehen. Sie passen nicht zu den Vorstellungen, die sich die Eltern einst gemacht haben. Und trotz aller gegenseitigen Verletzungen und Verständnislosigkeit hält man am Ende doch auf eine unvollkommene Art und Weise zusammen.
„Supersex“ ist die Geschichte eines Mannes, der aus seinem Ruf als „Italian Stallion“ (Italienischer Hengst) nicht nur Selbstwertgefühl und Lebensinhalt zieht. Er leidet auch unter seiner Sexsucht. Wer einmal einen solchen Kerl erlebt hat, der in einer Nacht zu sieben, acht und mehr Ejakulationen fähig ist und dem gar nichts anderes übrig bleibt als zu lernen, Frauen an ihr tiefstes Begehren zu führen, und sich in die Halbwelten von Sexclubs, Aktkunst und Porno zu begeben, damit er seinen starken Trieb auf möglichst wenig schädliche Weise ausleben kann, der bekommt eine Ahnung davon, welche inneren Kämpfe Rocco Siffredi ausgefochten haben muss.
Überzeugende Besetzung bis in die Nebenrollen mit einem „Aber“
„Supersex“ ist durch die Bank weg überzeugend besetzt. Jede*r Schauspieler*in, selbst Nebenfiguren wie Vincenzo Nemolato als Pornoregisseur Riccardo Schicchi, aber auch Mutter, Vater, Cousin und viele andere, passt außergewöhnlich gut zu seiner*ihrer Figur. Alessandro Borghis Lächeln hat exakt diesen kleinen, frechen, verführerischen Dreh im Mundwinkel, der den Charme des echten Rocco Siffredi ausmacht. Sein Gesichtsausdruck beim Orgasmus ist überzeugender gespielt als man es von einem Mann je gesehen hat.
Eine Entdeckung ist Adriano Giannini, laut Wikipedia in Italien eher als Synchronsprecher für Heath Ledger und Joaquin Phoenix bekannt als für große schauspielerische Rollen. Sehr glaubwürdig stellt er Roccos Halbbruder Tommaso in jeder Episode ein Stück verzweifelter und abgestürzter dar. Der einzige Wermutstropfen in der Besetzungsliste ist die große körperliche Diskrepanz zwischen Giannini und dem Darsteller des jungen Tommaso (Francesco Pellegrino). Der ist auch gut, sieht aber völlig anders aus. Das Älterwerden in Gestalt von Giannini mit seinen ausgeprägten Labialfalten ist daher einfach unglaubwürdig.
Frauen so verschieden, wie die Natur sie geschaffen hat
Dass Idee und Drehbuch von einer Frau stammen, merkt man sofort daran, wie differenziert Francesca Manieri ihre weiblichen Figuren beschreibt. Und daran, dass es nach 315 Minuten Sex mit den Worten „Ti amo!“/“Ich liebe dich!“ endet. Eine Rezensentin im Rahmen der Berlinale mokierte sich, dass Frauen in „Supersex“ zu Objekten verkämen, weil nur weibliche Körper nackt zu sehen seien. Das stimmt nicht. In späteren Episoden zeigt sich auch der männliche Hauptdarsteller komplett hüllenlos.
Es gibt zwar nackte Frauenkörper, dezent und sehr ästhetisch sogar Schamlippen und -haare zu sehen. Aber viel erwähnenswerter und moderner ist doch, dass die Netflix-Serie Frauen in ihrer ganzen Vielfalt zeigt. Neben Frauen, die Rocco auf den Schoß springen, auch Frauen, die Sex nicht mögen. Frauen, die bei der Penetration nicht kommen. Frauen mit kleinen Brüsten und mit ausladenden Gesäßen. Und Frauen, die im Bett gebissen, gewürgt werden möchten. Frauen, die Männern den Unterschied zwischen Sex und Liebemachen erklären, obwohl sie selbst Pornodarstellerinnen sind. Frauen, die als Jugendliche freizügig mit Männern spielen und als Erwachsene in einer undefinierbaren Mischung aus eigener Lust und Hörigkeit anschaffen gehen. „Das Verlangen einer Frau geht tief“, sagt Roccos Erzählstimme an einer Stelle. „Viel tiefer als wir annehmen.“ Es ist komplex, widersprüchlich, manchmal ungesund. Daraus können wir doch als Zuschauer alle nur was lernen.
Ein Hengst im Bett mit einem weichen Kern?
Ja, die Hauptfgur kommt in der Netflix-Serie auf den ersten Blick gut weg. Zu gut, bemängeln manche Kritiker*innen. Denn wäre das nicht der Traum einer jeden Frau: ein Mann, der ein Hengst im Bett ist und gleichzeitig eine sensible, reflektierte Seele? … [WEITERLESEN]

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Inhalt
- Reportage: Liebeserklärung an einen Musikkeller (Seite 2)
- Reisebericht aus Ghana: Solomons Bucht (Seite 6)
- Gedicht: Melancholie eines Kindes (Seite 13)
- Rezension: Drei Film- und Serientipps zur Einstimmung auf deine Australien-Reise (Seite 14)
- Kurzgeschichte: Wielander im Keller und auf dem Dach (Seite 16)
- Kolumne: Mein Schottenrock für Jürgens Frau (Seite 20)
- Reportage: Die Flip Flop-Fische von Airlie Beach (Seite 23)
- Reisebericht aus Albanien: Fest auf dem Boden stehen und wachsen (Seite 26)
- Rezension: Sich vorurteilsfrei auf die Netflix-Serie „Supersex“ einlassen (Seite 31)
- Gedicht: Rosenfolter (Seite 35)
- Kurzgeschichte: Matteo und der Zauberer (Seite 36)
