Die Obst- und Nussverkäuferin an der Ecke Okodan Road und Klannaa Street ist am Sonntagvormittag nicht da. Da geht sie in die Kirche. Oder in eine der zahlreichen anderen Örtlichkeiten, in denen in Accras Vorort Osu an diesem Sonntagvormittag Gottesdienste gefeiert werden. Das kann ein Innenhof hinter einer Mauer sein, ein größerer Gemeindesaal oder einfach ein Zelt. Mehr als 70 Prozent der Bevölkerung sind christlich, überall wird gesungen. Nicht besonders harmonisch, aber mit Inbrunst: „Allolo, allolo, …“
Auf den Straßen ist kaum jemand unterwegs. Nur im schattigen Eingang einer Holzhütte im ärmlicheren Teil von Osu zwischen 28th Febuary Road und Ozean sitzen einige Frauen mit ihren Töchtern. Sie winken und rufen uns zu sich. Kichernd lassen sie uns einige Begrüßungsfloskeln auf Twi üben, einem der am weitesten verbreiteten Dialekte im Land. Amtssprache ist Englisch, im Gegensatz zu vielen anderen afrikanischen Ländern, in denen es Französisch ist. Wer nach Ghana reist, hat sich das Land oft genau deshalb ausgesucht. Mit Englischkenntnissen kommt man wirklich gut herum, zwei Drittel der Bevölkerung beherrschen die Sprache. Nur ein einziges Mal werden wir in Cape Coast an der Verständigung mit einer älteren Verkäuferin scheitern, die nur einen einheimischen Dialekt spricht und die Frage, ob man auch eine einzelne Flasche Wasser aus ihrem Sechserpack erwerben könne, nicht versteht. Oder nicht so beantwortet, dass wir es verstehen.
Die Frauen aus der Holzhütte schicken das jüngste Mädchen vor, um uns zu umarmen. Die Kleine weiß sofort, was zu tun ist, und es ist das erste von vielen Malen in den kommenden Wochen, dass ein Erwachsener ein Kind in unsere Richtung schubsen wird. Das Berühren eines Weißen scheint Glück zu bringen. So ungefähr wie beim Schornsteinfeger. „Hast du sowas schonmal gesehen?“, sagt einmal ein Vater zu seinem kleinen Sohn. Sowas, das wären weißhäutige Menschen. Andere schießen ein schnelles Foto aus der Hüfte, ohne zu fragen: Mein Kind und die weiße Frau. Sie sind zweifellos süß, die Kleinen, aber richtig fühlen sich solche Begegnungen nicht an.
Es gibt auf diesem Straßenabschnitt keinen Zugang zum Meer, wir müssen uns querfeldein durch den Müll schlagen. Er beeinträchtigt das Stadt- und Landschaftsbild nicht in so großen Mengen wie anderswo, aber er ist überall. Auf die Plastikflaschen am Boden wurde schon so oft getreten, dass sie zu papierdünnen Frisbeescheiben gepresst geworden sind. Zwei übermannshohe Ballen zusammengebundener Pfandflaschen wiegen sich an einer Straßenecke im Wind und niemand scheint irgendetwas Entsorgendes mit ihnen vorzuhaben. Eine verrottete Bank mit Weitblick über den menschenleeren Strand gibt es, aber zum Sitzen lädt sie inmitten des Abfalls nicht ein.
Die von behelfsmäßigen Bretterverschlägen gesäumte Küste ist dennoch ein hilfreicher Anblick. Denn der innere Kompass stellt sich bei einer Fernreise einfach schneller um, wenn er einen Ozean als Orientierungslinie hat. Es erdet zu wissen, in welche Himmelsrichtung man nach Hause schauen muss. Und vielleicht wird es ja auch notwendig werden, vor den großen, weißen Buckelrindern wegzulaufen, die im Moment noch träge und imposant im Sand rasten? Dann wäre klar wohin: zur Innenstadt geht es nach Norden. Mit ihren langen Hörnern und vor einem Ensemble aus roten Lehmziegelgebäuden liegend wirken die Tiere wie eine Fata Morgana aus einer Wüstenoase. Vor allem in der staubschwangeren, fast greifbaren Luftmasse, die über Osu hängt. Das ist der Harmattanwind, der Wüstensand aus der Sahara in Richtung Äquator bläst. Jeden Tag schwebt der Dunst über dem Land, nimmt dem Himmel sein Blau, der Luft ihre Frische, den Sonnenauf- und -untergängen ihr Feuer.
Ein paar hundert Meter in Richtung Westen am Meeressaum entlang sind dann doch ein paar Menschen zu sehen. Ein sorgfältig gestyltes Mädchen im Schlauchkleid probiert verschiedene Posen vor einer Kamera, die es auf dem Stativ vor sich in den Sand gegraben hat. Der blaue Stoff und ihre dunkel glänzende Haut bilden einen extremen Kontrast zu dem blassen, natürlichen Sepiafilter, den die gleißende Sonne über die Szene legt. Nicht die Brandung, sondern den mit Autoreifen gegen die Erosion gesicherten Abhang hat das Mädchen als Hintergrund für sein Fotomotiv gewählt. Gegenseitig starren wir uns neugierig an, doch keine beginnt ein Gespräch. Das ist schade, denn mit Frauen werden wir in Ghana nur selten in Kontakt kommen. Meistens sind es die Männer, die sich bemerkbar machen. Und während auf Bali an jeder Ecke ein Instagrammer mit Selfiestick im Reisfeld steht und in sein Smartphone quatscht, bleibt die blaue Lady am Strand von Osu die einzige, der wir begegnen. Es wäre interessant gewesen zu erfahren, was ihre Botschaft ist. Und ob Ghana eine nennenswerte Influencerszene hat. Unter den Verkaufsständen an den Straßenrändern in den südlicheren Regionen hat der eine oder andere neben Guaven oder Sesseln jedenfalls auch typisches Social Media-Zubehör wie eine Ringleuchte im Angebot.
Seit meinem Aufenthalt in Ruanda bin ich mit einer jungen Frau in Kontakt, die beim realen Treffen noch fast kindlich wirkte. Mit raspelkurz geschorenen Haaren, gerade erst erblühenden Brustknospen und übergroßem T-Shirt half sie ihrer Mutter mit den vielen Geschwistern. Auf Instagram aber inszeniert sie sich mit Perücke, Make-up und knapper Kleidung als Femme fatale. Schmiegt sich in erotischen Posen in marokkanisch anmutende Gebäudefluchten, die ich in dieser Schönheit in Kigali so gar nicht wahrgenommen habe, und hofft auf einen Boyfriend, der sie ins Ausland holt. Vielleicht treiben die ghanaische Instagrammerin ähnliche Hoffnungen um. Die jungen Männer, die trotz brüllender Hitze unten am Wasser Fußball spielen, interessieren sie jedenfalls nicht. Verschwitzt und betrunken, aber freundlich kommen zwei von ihnen auf uns zu und beginnen ein zielloses Palaver. Auch die Kiffer, die das einzige Fleckchen Schatten an der Außenmauer des Osu Castle belagern, suchen Kontakt. Ihre Augen sind gelb und von roten Äderchen durchzogen. Von einem Kunstmarkt ist die Rede, und davon, dass man uns am Abend ausführen könne. Der Tatendrang hinter den Ankündigungen bleibt aber überschaubar. Werktags, so erzählt es zumindest der junge Mann, der von den anderen auserkoren wird, uns durch das Gassengewirr am Fuße der Festung zurück zur Hauptstraße zu geleiten, studiere er Schiffsbau.
Hinter einer Mauer am Kreisverkehr am Castle Drive wird noch gesungen, einige Ziegen hören zu. Doch andernorts sind die Gottesdienste inzwischen vorbei. Herausgeputzte Menschen sammeln sich auf den Straßen. Der Style reicht von Golfclub (Poloshirt) bis Abschlussball (Cocktailkleid), obwohl es ein halsbrecherisches Unterfangen ist, hier mit Stöckelschuhen am unebenen Bordstein zu balancieren. Sonntag hin oder her, die Händler eröffnen ihre Stände. Es gibt ein frittiertes, kugelförmiges Gebäck namens Bofrot und Hühner zu kaufen – und jetzt auch wieder Obst und Tigernüsse. Sie sehen nach Cashews aus, sind aber weicher und süßer beim Kauen. Daher vielleicht auch der andere Name: Erdmandeln. Ein stotternder Junge hinter einem Imbissstand freut sich über Zuhörerinnen und erzählt uns fröhlich zusammenhanglose Dinge. Die Graffiti an den Hütten zeigen die rot-gelb-grüne Flagge von Ghana und Szenen vom Fischmarkt. Auch stolze Krieger in traditionellen Gewändern. Und den Schriftzug Christiansborg, denn dieser Vorort von Accra war ab 1659 einige Jahrzehnte lang dänisches Gebiet. Die pragmatischen Betonbungalows mit den Wellblechdächern nördlich der 28th Febuary Road wirken im Vergleich zu den Hütten am Strand plötzlich viel aufgeräumter und wohlhabender als sie es heute morgen noch taten…
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Die ganze Reportage gibt es hier:
Reisereportagen
von Maja Roedenbeck
PDF mit 76 Seiten und zwei Reportagen: Ghana und Rwanda, lesbar auf dem Kindle, Kaufabwicklung über Digistore24, kein Widerrufsrecht für digitale Produkte