Weil der Alltag in Australiens Northern Territory so hart und anstrengend ist, bringt er unglaublich viel Kunst hervor. Aboriginal Art natürlich, aber auch whitefella-Perspektiven. Eine der bekanntesten lokalen Künstlerinnen außerhalb der Aboriginal Community ist Carol „Kaz“ Randall, 66 Jahre alt, aus Katherine. In vier Tagen im Gästezimmer ihres von Stelzen getragenen Tropenhauses gewährt sie mir einen faszinierenden Einblick in ihren Alltag, ihre Ehe und die Quellen ihrer Inspiration.
Es gibt keinen Pfad durch das hüfthohe Gras, durch das ich Carol folge, nur alle paar Meter eine rote Markierung auf einem Stein. Wir befinden uns irgendwo im Nitmiluk Nationalpark, abseits von den Touristenattraktionen, die jetzt in der Regenzeit ohnehin geschlossen sind. Auf dem Weg zu einem heiligen waterhole der Aborigine. Es ist eine große Ehre für mich, dass die im Northern Territory und darüberhinaus bekannte Künstlerin und ihr Mann Andrew mir ihren Lieblingsort in der nordaustralischen Wildnis zeigen, an dem sie Frieden finden und der sie inspiriert. Mit Schuhen, die danach vor Nässe quietschen, müssen wir zweimal durch den Bach waten, dessen Lauf wir folgen. Zum Gras gesellen sich palmenartige Gewächse und Sträucher mit feder- oder staubwedelartigen roten Blüten, Grevilleen vielleicht.
Nach zwanzig Minuten oder einer halben Stunde stehen wir am Wasserloch am Fuße einer teils naturbraunen, teils vom Regen geschwärzten, bedrohlich wirkenden Felswand. Hoch oben haben Ureinwohner mit Ockerfarben eine Familie gezeichnet. „Einmal haben wir versucht, dort hinauf zu klettern, aber es ist sehr gefährlich, sehr rutschig“, sagt Andrew am Rande des Wasserlochs. Das Wort klingt in der deutschen Sprache viel zu abwertend für das, was es ist. Tümpel auch. Es ist ein Teich, ein natürliches Regenwasserauffangbecken wie es auch am Fuße des Uluru eines gibt, mit Kaulquappen und kleinen Fischchen, Unterwasserpflanzen, Seerosen und mächtigen Baumstämmen, die mitten aus dem Wasser heraus wachsen. Aus dem schlammigen Grund steigen Blasen auf. Über allem liegt eine überirdische Stille. Wir entledigen uns unserer Kleidung und waten ins Wasser, das kühler als die Luft ist, aber nicht kalt. Carol setzt sich wie eine Meerjungfrau auf einen Stein. Ich lasse mich treiben und betrachte die Felsenmalerei. Meditiere. Ein bisschen Sorge habe ich nur, dass ich mir in diesem stehenden Gewässer die Gehörgänge entzünde, es wäre nicht das erste Mal.
Eine Künstlerseele mit wallendem, grauweißen Haar
Dass Meerjungfrau Carol eine Künstlerseele ist, merkt man auf den ersten Blick. An den rot und blau gefärbten Stirnsträhnen in ihrem wallenden grauweißen Haar, an ihren bunt gemusterten Kleidern, am blutroten Lippenstift in ihrem liebevollen Gesicht, das die Spuren des Lebens trägt. Und daran, wie aufmerksam sie beobachtet. Als wir über Stock und Stein hierher gekraxelt sind und ich genug damit zu tun hatte, mir nicht den Fuß zu verstauchen, hat sie Andrew und mich immer wieder auf besonders geformte Steine am Bachufer aufmerksam gemacht. Getrocknete Palmenrinde gesammelt, aus der man Körbe flechten kann. Als sie mich am Greyhound-Bus abholte, hat sie von meiner Buchungsanfrage geschwärmt: „Ich fand es so inspirierend, dass du geschrieben hast, dass ich dich am roten Rucksack und der Gitarre erkenne! Ich muss unbedingt ein Foto von dir mit deiner Ausrüstung machen, und dann will ich ein Bild davon malen!“
Auf Facebook nennt sich Carol Randall „arty social scientist“, künstlerisch veranlagte Sozialwissenschaftlerin. Sie experimentiert mit handgemalten Drucken, Papierschnitten und digital bedruckten Stoffen, stellt aber auch Peelings selber her. Ihre Gemälde werden regelmäßig für den städtischen Kulturpreis in Katherine empfohlen, wo sie lebt und arbeitet, und waren Teil der Ausstellung zum Portrait of a Senior Territorian Art Award im drei Fahrstunden entfernten Darwin. Sie hängen in Kunstgalerien des Ortes, der Mimi Aboriginal Art & Craft Gallery und im Godinymayin Yijard Rivers Arts and Culture Centre. Eines ihrer bekanntesten Kunstwerke zeigt einen Aborigine-Jungen, auf dessen Brust eine Erwachsenenhand liegt, die fast so groß ist, wie sein ganzes Gesicht. Zu groß im Verhältnis, aber eben auch so beschützend. Die Szene habe sie bei einer Beerdigung beobachtet, erzählt Carol.
Mit der Schwimmnudel in den Thermalquellen
Eine ganze Serie von Gemälden hat sie den Thermalquellen gewidmet, der Hauptattraktion von Katherine. Es sind bunte, fröhliche Sommerszenen von Menschen mit Taucherbrillen und Schwimmnudeln in den „Hot Springs“, die leider jetzt im Februar in der Regenzeit weiträumig abgesperrt sind. Wegen der Krokodile, die man im trüben, angeschwollenen Katherine River nicht mehr sehen kann. Anlässlich der Ausstellung zum 49. Katherine Prize im Dezember 2024 wird Carol auf Instagram zitiert: „Ich liebe die Thermalquellen! Dieser einzigartige Ort hat so viele Ebenen. Er steht für Genuss und Freude, er ist gleichzeitig sicher und zugänglich für alle, aber auch zutiefst ruhig und zeitlos. Jeder verbindet seine eigene, sehr lebendige Geschichte mit den Hot Springs und was sie für ihn bedeuten.“
Auch im Vorjahr war Carol Randall unter den Einreichungen vertreten gewesen – mit ihrem Werk „Hot Springs & Noodles“. Ein Jurymitglied namens Kate sagte laut dem Veranstaltungsbericht auf der Award-Website: „In 10 oder 15 Jahren wird es wahrscheinlich dieses Werk sein, das mir in Erinnerung geblieben ist. Es fiel mir sofort auf. Es fängt die sehr vertrauten heißen Quellen unseres Ortes ein, aber auf eine Weise, die, wie ich glaube, universell ist. Es beschwört das Gefühl glücklicher Tage herauf, die man mit anderen an einem wunderschönen Ort verbringt.“
„Kaz“ Randall gibt auch Workshops, die „Geschichten malen mit Künstlerin Carol“ oder „Freiluftmalen und -zeichnen an unseren heißen Quellen“ heißen. In ihnen soll „die Freude an Farben und Texturen, während sich die Natur entfaltet“ erlebt, es sollen „Geschichten basierend auf unseren Reisen und unserem Leben im Northern Territory“ festgehalten werden. Wer das liest, ohne selbst dort gewesen zu sein, wird die Zeile vermutlich nur überfliegen. Wer die Härte des Territorys jedoch kennengelernt hat, der weiß den Satz anders zu deuten. Kunst ist hier etwas Notwendiges. Etwas, das Kraft und Durchhaltevermögen erzeugt. Etwas, das dem Ausharren trotz aller Widrigkeiten Sinn verleiht.
Auch wenn das Thermometer in Katherine nach den 45 Grad in Alice Springs nur noch 32 Grad zeigt, liegt die gefühlte Temperatur durch die hohe Luftfeuchtigkeit laut Wetterbericht bei 42 Grad. Die Kleidung ist innerhalb kürzester Zeit komplett durchgeschwitzt. Nass wie ein Duschhandtuch hängen Trägertop und Leinenhose an mir herab und trocknen für den Rest des Tages am Körper auch nicht mehr. Und dabei sind dies schon die besseren Monate. „Im November kann man praktisch nicht mehr aus dem Haus gehen“, erzählt Andrew. „So wie ihr euch in Deutschland im Winter im beheizten Wohnzimmer einkuschelt, bleiben wir neben der Klimaanlage sitzen und bewegen uns möglichst wenig.“
Im Baumhaus unter Bambusstauden
Carol und Andrew sind vor fünfzehn Jahren nach Katherine gezogen, wo Andrew aufgewachsen ist, weil sie aus dem Hamsterrad in Sydney ausbrechen wollten. Sie haben ein Haus auf Stelzen gekauft, in dem sie mehrere Gästezimmer vermieten. Es wird von mächtigen Dschungelpflanzen, Bambusstauden und Palmen eingerahmt und fühlt sich fast wie ein Baumhaus an. „Das haben wir alles selbst gepflanzt, weil es das Klima angenehmer macht“, erzählt Andrew. „Aber außerhalb der Regenzeit geben wir 1.000 Dollar im Monat für die Bewässerung aus.“ Den Tee am Morgen und die langsam im Ofen karamellisierten Nektarinen essen und trinken sie auf der großen Veranda, auf der man auch wunderbar die tropischen Regengüsse abwarten kann. Danach quaken Frösche unter dem Schlafzimmerfenster. Als während der Pandemie keine Mieteinnahmen reinkamen, sah es kurz so aus als müssten Carol und Andrew ihr Haus wieder verkaufen. Die beiden Hunde Tiger und Spicy bewachen es. Spicy kaut den ganzen Tag auf einem Gummitier herum und beißt es, anstatt zu bellen, damit es quietscht. Er wirkt wie ein harmloser Exzentriker, doch beim Gassigehen muss Carol aufpassen, dass er keine wilden Katzen reißt.
Doch von den schönen Seiten des Lebens in Katherine noch einmal zurück zu den harten [WEITERLESEN]

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Inhalt
- Künstlerportrait: Jedes Selfie könnte das letzte sein – Seite 2
- Reisebericht aus Ghana: Wo sich die Seelen der Verstorbenen treffen – Seite 7
- Kurzgeschichte: Uwe und das Mädchen – Seite 17
- Rezension: Liebe und Anarchie – Seite 21
- Gedicht: Szene in Rot – Seite 24
- Kolumne: Wer will schon die weise, alte Morla sein? – Seite 25
- Kurzfilmprojekt: „Nicht so viel darüber nachdenken, was andere von mir halten“ – Seite 28
- Gedicht: Stilles Kind – Seite 31
- Reisebericht aus Australien: Wo das harte Leben Kunst inspiriert – Seite 32
- Kurzgeschichte: Matthias Ginnberger zittert nicht – Seite 37
- Künstlerportrait: Drei junge Musikerinnen zum Niederknien – Seite 40
- Travel report: Where a hard life inspires art – Seite 45
