Reisereportage: Solomons Bucht | Butre, Ghana

Butre Ghana

Die Bucht von Butre ist leicht zu übersehen. Pauschaltouristen schaffen es oft nicht weiter westlich als bis zur Sklavenfestung in Cape Coast und biegen dann Richtung Kakum Nationalpark nach Norden ab. Wer die Netflix-Doku „Brilliant Corners: Ghana“ gesehen hat, fährt dagegen an Butre vorbei zum Surfen nach Busua oder zum Cape Three Points. Dabei hat Waisenjunge Solomon hier in Butre so viel Freundschaft und Lieblingsorte zu verschenken.

Das östliche Ende der Bucht von Butre bilden eine riesige, vom Hauptland abgetrennte Landkugel im Meer, die mit windschiefen Bäumchen bewachsen ist, und mehrere vorgelagerte Felsplateaus. In einem mysteriösen Rhythmus werden die schwarzen Steinplatten von sanften Wellen überspült oder von einer gewaltigen Gischt angegriffen. Das Wasser kommt und gurgelt in den ausgehöhlten Felsen umher, beginnt immer wilder zu schleudern, bis sich bei jeder sechsten oder zehnten Welle die aufgestaute Energie in einer Wasserexplosion entlädt. Stundenlang könnte man hier meditieren und vergeblich versuchen, in dem Schauspiel die Gesetzmäßigkeiten der Natur zu durchschauen.

Solomon hat uns hergebracht. Völlig still und in sich versunken sitzt der kleine, schmächtige junge Mann mit einem der dunkelsten Gesichter, denen wir auf der Reise begegnen, ganz vorne auf der Kante eines der Schiefer- oder Granitfelsen. Er zuckt nicht mit der Wimper, wenn ihn eine Welle komplett erfasst, durchnässt, beinahe mitreißt. Im Gegenteil, dann breitet er plötzlich die Arme aus, als ob er das Wasser empfangen wolle, und setzt sich vertrauensvoll der Naturgewalt aus.

Der Waisenjunge ist kein geübter Guide. Wenn er seine Gedanken im Meer oder im Himmel verliert, vergisst er weiterzuerzählen und ist einfach nur noch Mensch. Gewiss, er wird am Ende unseres Aufenthalts auf Trinkgeld hoffen und später auf Überweisungen aus Deutschland („Für einen Laptop“). Aber jetzt und hier ist er mit uns unterwegs, weil er einsam ist und sich über Gesellschaft freut. Und weil er auf seinen Streifzügen durch die Bucht so viele schöne Orte entdeckt hat, die er gerne teilen möchte. Es kommt nur kaum jemand her.

Ob Oma wirklich Oma ist?

Solomon selbst hat es vor fünf Monaten auf der Suche nach Arbeit aus Accra nach Butre verschlagen. In der Hauptstadt ist er in Rapper-Klamotten mit einem Fahrrad mit Kühlbox umhergefahren und hat versucht, Eis zu verkaufen. Nachdem er volljährig geworden war und die Schule beendet hatte, durfte er nicht mehr im Waisenhaus bleiben. Er bekam Besuch von einer Frau, die sich als seine Großmutter ausgab. Aber woher sollte er wissen, ob das stimmt? Solomon hatte nie zuvor einen Verwandten gesehen. Und eine Perspektive bot ihm die angebliche Oma auch nicht.

Nun hilft er also am Butre Beach in der kleinen Lodge von Francis, einem ausgesucht höflichen Mann, dessen krause Haare und Henriquatre-Bart schon grau geworden sind. Es

gibt dort Hunde, die es sich auf den Liegestühle bequem machen und die Gäste nachts kläffend auf dem Weg zum Klohäuschen verfolgen. Es gibt die Ziegen, die den hübschen Gartenpavillon als Abort auserkoren haben. Aufgerichtet auf zwei Beinen stehen sie in den Büschen und recken sich nach Blättern, weil sie die untersten Äste schon kahlgefressen haben.

Es gibt Dora, die immerzu lachende Köchin mit ihrer trotzigen kleinen Tochter, und die Kellnerin, die niemals einen Mundwinkel verzieht. Ihr Dekolleté ist von langen, wulstigen Narben durchzogen. Sie habe sich Chemie auf die dunkle Haut ihrer Brüste gerieben, vermutet Solomon, um sie aufzuhellen. Oder sind die Narben vielleicht doch von einer Bestrafung zurückgeblieben? Unwillkürlich kommen einem bei ihrem Anblick die misshandelten Frauen in Yaa Gyasis Ghana-Epos „Heimkehren“ in den Sinn. Manche wurden aus Eifersucht von ihren Stiefmüttern malträtiert, andere aus Schutzgründen entstellt, damit niemand auf die Idee kommt, sie als Sklavin zu entführen.

Ein schicksalhafter Umweg

Wie jedes Jahr sind Aaron aus der Schweiz und seine Frau Afia für einige Wochen bei Francis zu Gast. Denn ihm verdanken sie, dass sie sich kennengelernt haben. Damals fuhr Francis Aaron von Busua ins Landesinnere, wo der Schweizer bei einem sozialen Projekt mit anpacken wollte. Unterwegs machten die beiden Halt in Afias Dorf, um etwas abzuliefern. In Deutschland käme es einem komisch vor, wenn der Taxifahrer Umwege führe, weil er etwas zu erledigen hat. Hier ist es ganz normal. Das hat nichts mit schlechtem Service zu tun, sondern damit, dass der Mensch nicht so sehr mit seinen Plänen als Individuum zählt, sondern dass für die Gemeinschaft gedacht wird.

Für Aaron hat sich der Umweg mit Francis als schicksalhaft erwiesen. Inzwischen betreibt er eine eigene Berufsschule und hat ein Haus in Afias Dorf gebaut. Er hat sie geheiratet und eine Tochter mit ihr bekommen, die Hochdeutsch, Schweizerdeutsch und Twi spricht. Sie leben in der Schweiz, wo Aaron als Arbeitserzieher und Afia in einer Bäckerei arbeitet. Am Ende dieser Reise, so hoffen sie, werden sie Afias Sohn Kojo aus einer früheren Beziehung mit in die Schweiz nehmen dürfen. Der Antrag bei der Botschaft läuft. Kojo war bei einer Tante zurückgeblieben, muss aber inzwischen in der Schule schlafen. Es gehe ihm nicht gut, sagt Afia, obwohl der Junge es mit der Aufgewecktheit eines Kindes, das alleine klarkommen muss, versteht, auf Fremde zuzugehen. Wie es in seinem Herzen aussieht, kann man nur erahnen.

In seiner offenen Art ähnelt Kojo dem Hausangestellten Solomon, der ebenso auf sich gestellt ist, mit seinen 19 Jahren allerdings eine ordentliche Portion kindlicher Neugier bereits abgelegt hat. Solomon weiß, sich erwachsener, auf eine unaufdringliche Weise unentbehrlich zu machen. Er trägt dieselbe Frisur wie Afia und genießt es, wenn sie ihm die Haare macht. Nicht nur spart er 90 Cedis für den Friseur, die er sowieso nicht hätte, sondern bekommt für die Dauer der Prozedur auch ihre flinken Finger an seiner Kopfhaut zu spüren. Eine kleine Streicheleinheit für einen jungen Mann, der mit den Mädchen aus seinem Land nichts anfangen kann. „Sie suchen Typen mit Geld, die ihnen ein besseres Leben bieten können“, seufzt er. „Oder sie haben mehrere Affären, um die Männer gegeneinander auszuspielen.“ Dass Solomon ein ausgezeichnetes Englisch spricht und tiefgründige Gespräche darüber führen kann, was im Leben wichtig ist, gilt hier nicht als Attraktivitätsattribut.

Mit einer Sicherheitsnadel hakt sich Afia am unteren Ende seiner dünnen Zöpfchen ein und schlingt sie mehrfach durch die nachwachsenden Haarsträhnen am Ansatz. So oft, bis die Sicherheitsnadel nicht mehr zwischen Kopfhaut und Zopfanfang hindurch passt und die Zöpfchen ein paar Zentimeter länger sind. Anderthalb Stunden dauert die Prozedur bei Solomon. Dann ist er bereit für den heutigen Nachmittagsausflug.

Zehntausend Eier werden die Hühner wohl legen

Diesmal führt er über die abenteuerliche Fußgängerbrücke an der Flussmündung ins Dorf. In Form eines Dreiecks richtet sie sich über dem Wasser auf, um den Booten den Weg aus dem kleinen Hafen in der Lagune aufs offene Meer nicht zu versperren. Fotos von früher zeigen, dass die Bretterkonstruktion mit Geländer ein deutlicher Fortschritt gegenüber der Vorgängerbrücke ist. Die bestand lediglich aus ein paar Treibholzstöcken und breiten Lücken dazwischen und erhob sich noch viel steiler über die Bucht. Manchmal stürzte jemand ab.

Auf den ersten Blick ist Butre ein trauriges Dorf. Es wirkt eng und schmutzig, vereinzelt liegen Exkremente herum. Man meint, auch menschliche zu erkennen. Die Geschäfte und Essensstände sehen düster aus. Kaum eins der eng aufeinander hängenden, wenig ästhetisch zusammengezimmerten Häuser ist gestrichen. Nur die Unterkunft der Lehrer der örtlichen Schule wirkt gepflegt. Solomon jedoch sieht in Butre nur Schönheit. Er sieht Menschen, die einander seit Ewigkeiten kennen, gemeinsam im Freien kochen und schwatzen, wenn die Hitze des Tages langsam nachlässt. Die miteinander Handel treiben und sich gegenseitig bei ihren Projekten helfen. Er wünscht sich, er gehörte dazu. Doch es dauert, bis sie einen Fremden in die Dorfgemeinschaft aufnehmen. Der 19-Jährige hat ein kleines Zimmer gemietet, würde aber so gern ein Häuschen mit zwei Räumen bauen und Hühner kaufen. Zehntausend Eier würden sie sicher legen, rechnet er, einige könnte er selber essen, den Großteil verkaufen. Aber das Geld, das er verdient, reicht nicht.

Dann ist kein Gespräch mehr möglich, denn auf dem Dorfplatz dröhnt Musik aus acht riesigen modernen Boxen. Ein Höllenlärm, wem kann denn das gefallen? Und wie hat es diese Stadionkonzertanlage hierher geschafft? Die Erklärung ist einleuchtend: Die Musikanlage ist gemietet. Es wird eine Beerdigung gefeiert. Damit ganz sicher niemand angesichts der Endlichkeit des Lebens in negative Gedankenspiralen verfällt und dabei zu viel Alkohol trinkt, werden Kirchengesänge aufgedreht. In einer Lautstärke, die jede Melancholie im Keim erstickt.

Tausche Mentos gegen Ruine

Hinter der letzten Häuserreihe von Butre geht es den Hügel hinauf zum Fort Batensteyn, einem nicht sehr bedeutenden Handelsstützpunkt von 1656. Schweden, Niederländer und Briten waren hier am Werk. Am Eingang hockt ein alter Mann mit kranken Augen, vom Tourismusverein abgestellt, und kassiert einige Cedis Eintritt. Wir hätten sie gern bezahlt, aber weil es in der Bucht sonst wenig Gelegenheit gibt, Geld auszugeben, haben wir uns abgewöhnt, auf den Spaziergängen welches mitzunehmen. Nur eine halbe Rolle Mentos findet sich in meiner Hosentasche. Die Pfefferminzkaubonbons sind in Ghanas Städten weiter verbreitet als Mars und Snickers, wahrscheinlich wegen der Hitze. Gegen Mentos und ohne Geld dürfen wir aber trotz höflichen Bittens nicht hinein ins Fort. Und das ist ja auch richtig so, aber furchtbar schade, denn die Ruine sieht in YouTube-Videos malerisch aus. Überwucherte grau-rote Mauern, Tür- und Fensterbögen in einem europäisch-vertrauten, präzisen Architekturstil, der hier wie aus Zeit und Raum gefallen wirkt. Solomon schämt sich ganz furchtbar, weil er nichts vom Eintrittsgeld erwähnt hatte und weil wir den alten Mann nun enttäuscht sitzen lassen müssen.

Die Hauptstraße, falls man bei dieser Geröllpiste davon sprechen kann, führt in Richtung Westen und damit Busua weiter den Hügel hinauf. Allein sollte man hier als Reisender, als Frau nicht unterwegs sein, davor haben Fahrer Joe, Solomon und das Internet übereinstimmend gewarnt. Von vereinzelten Überfällen wird berichtet. Zumindest kommen immer wieder überraschend zwei, drei Männer aus dem Gebüsch gesprungen, die wahrscheinlich verbotenerweise dort gekifft haben. Freilaufende Hunde gibt es auch. Einmal spricht uns ein schmieriger Typ – Schmuckverkäufer – an und warnt vor psychisch Kranken mit Messern und schlecht gelaunten Häuptlingen, die es nicht mögen, wenn man in ihren Dörfern herumläuft.

Oben links zweigt ein steiler Trampelpfad zum Coconut Beach ab. Kein Sonnenstrahl gelangt jetzt am späten Nachmittag mehr hier unten hin. Die Ruine und der zurückgelassene Müll einer Strandbar markieren den vergeblichen Versuch, eine touristische Attraktion zu etablieren. Nun sind die schwarzen Krabben, die die Spalten zwischen den Felsen in der Brandung bewohnen, wieder ungestört. Ein weiterer Trampelpfad führt zu einem Aussichtspunkt auf der höchsten Stelle des Hügels zwischen den beiden Buchten. Irgendjemand hat hier irgendwann begonnen, den Untergrund einzuebnen, hat Ziegelpaletten für den Bau eines Hauses in phantastischer Lage über der grünen Goldküste abgestellt. Doch inzwischen ist das Grundstückstor aufgebrochen, die Zufahrt von der Natur zurückerobert und der rote Abhang bricht an einigen Stellen wieder ein. Und so lässt es sich in Ruhe im Abendlicht staunen.

Der Strand von Busua ist genauso golden, palmenumsäumt und an diesem Tag im Januar menschenleer wie der von Butre. Solomon zeigt auf seinem Smartphone Fotos von epischen Sonnenuntergängen an dieser Stelle, die die nordwestliche Kontinentalmasse zum Glühen bringen, soweit das Auge reicht. Doch jetzt, in der Jahreszeit des Wüstenwindes Harmattan verschwindet die Sonne als zweidimensionale Scheibe lange vor der Dämmerung im Dunst. Irgendwo dahinter liegt Cape Three Points – die südlichste Spitze Ghanas, das westliche Ende des Golfs von Guinea und die Landzunge, die am nächsten an der Stelle liegt, wo sich Nullmeridian und Äquator mitten im Meer kreuzen.

Von Butre aus wären es nochmal 30 Kilometer über rote Lehmpisten bis zum Kap. Fahrer Joe hatte sich bei der Anreise über den verhältnismäßig guten Zustand der Küstenstraßen gewundert. Er hatte sie anders in Erinnerung gehabt. Dass die Wege zwischen Ewuasiadwo und Asemasa ausgebessert, Schlaglöcher mit Geröll gefüllt und selbstgemalte Schilder aufgestellt werden, liegt einem Mann am Herzen, der ebenfalls zu den Urgesteinen in der Bucht gehört. Ellis, der überkandidelte Rastafari, trägt eine grell gemusterte Kluft in gelb, blau und rot, wie sie nur auf dunkler Haut tragbar ist, und dicke Stricksocken in den Flipflops. 35 Grad Außentemperatur hin oder her – Ellis mag es nicht, wenn der Sand seine Füße schmutzig macht. Ob seine redselige und hyperfröhliche Art charakterlich oder rauschmittelbedingt ist, bleibt zunächst ein Rätsel. Entfliehen kann man ihr nicht. Ellis summt und brummt um uns herum wie eine Biene. Umreißt in wenigen Stunden Stunden sein ganzes Leben, beklagt die Missstände in seiner Welt und beschwichtigt sich dann selbst mit spirituellem Gedankengut. Auf seinem Kopf türmt sich ein großer Ballen Dreadlocks, und es braucht einen Schal und ein Tuch, um sie in Schach zu halten.

Nach sechs Monaten in England ist der Rastafari gerade zu seinem Grundstück an der Goldküste zurückgekehrt. Nur um festzustellen, dass die Haushälterin mit der halben Ausstattung durchgebrannt ist. Seine Haustiere hat sie verhungern und seine kleine Touristenunterkunft verfallen lassen. Der Häuptling von Butre, den Ellis wütend aufgesucht hat, konnte da auch nichts mehr machen. Trotzdem verhandelt Ellis weiter mit ihm, vor allem über die Instandsetzung der Straße, von der alle profitieren würden. Nach der Pleite mit der Haushälterin fängt er einfach wieder von vorne an. Trimmt den Rasen mit den harten, breiten Halmen, setzt exotische Pflanzen mit fleischigen Blättern und großen Blüten in den Boden, hängt Hängematten und legt Raggaemusik auf. Füttert streunende Katzen, bis sie zu neuen Haustieren geworden sind. Streicht das wackelig konstruierte, doppelstöckige Holzhäuschen und die Betonmauern an der Grundstücksgrenze gelb, grün und rot an und engagiert einige Handwerker aus dem Ort, um die Steinhausruinen zu entkernen.

Das Geld dafür ist ihm durch Zufall in den Schoß gefallen. Am Flughafen in Großbritannien kam Ellis mit einem Influencer ins Gespräch. Man kann sich lebhaft vorstellen, wie er auf ihn eingeredet haben muss. Der Influencer freute sich über neuen Content für seine Kanäle und setzte einen Post ab: Da sei dieser smarte Raggaetyp aus Ghana, der habe im Leben Pech gehabt und brauche Starthilfe, um neu anzufangen. Follower haben gespendet, für Ellis ist es eine Menge Geld. Er hat sofort aufgehört, sich darum zu kümmern, die Brille zu besorgen, zu der ihm der englische Optiker geraten hatte, weil er die Zahlen auf Geldscheinen nicht mehr lesen kann, und stattdessen Zubehör für sein Grundstück eingekauft und hergebracht. Lampions, einen WLAN-Router, Ventilatoren. Am Strand hat er eine kleine Imbiss-Bar gebaut, Chalet nennt er die Hütte euphemistisch.

Traumstrände, von denen keiner Notiz nimmt

Ein Land mit einer ursprünglichen, tropischen Ozeanküste wie aus dem Bilderbuch, von der weder die Bewohner der Hauptstadt, noch die Bewohner der Dörfer an den Traumstränden im Westen Notiz nehmen – nach seinem Aufenthalt in Europa versteht Ellis, wie absurd das wirken kann. Die Einheimischen aus der Western Region nutzen das Meer wie sie es von ihren Vorfahren seit Generationen gelernt haben. Gelegentlich immer noch als Außentoilette. Vor allem aber, um morgens oder abends ihre hölzernen Fischerboote hineinzuschieben. Es ist viel zu heiß und ungeschützt, um nach neun oder vor sechzehn Uhr auch nur fünf Minuten am Strand zu verbringen. Cola mit Eiswürfeln oder Sonnenschirme gibt es hier nicht. Alle paar Tage stapft ein junger, weißer Backpacker verloren im Sand herum und findet genau das heraus.

Einmal begegnen wir einem altersfleckigen Westler mit Bierbauch, der von zwei einheimischen Schönheiten begleitet wird. Der beleibte Weiße macht Fotos, die Frauen im Bikini räkeln sich für ihn im Meeressaum. Die meiste Zeit aber ragen die Palmen in der Bucht ganz für sich allein über dem goldenen Sand empor. Die Sonnenuntergänge hinter den Hügeln im Westen bleiben unfotografiert. Die Sanddollarskelette, Turmschnecken- und Kaurimuscheln bleiben ungesammelt. Das Wasser ist flach, der Sog der langen, schnurgerade brechenden Wellen trotzdem stark, weit und breit niemand in der Nähe, um im Ernstfall zu helfen. Die Einheimischen baden also lieber in der Flussmündung des Butre River am westlichen Ende der Bucht. Schwimmen können hier, wenn überhaupt, sowieso nur die Fischer. Und Tony, der eine örtliche Legende ist. Wir bekommen ihn nie zu Gesicht, aber ständig fällt sein Name. Tony ist der einzige, der schwimmen kann. Tony kennt sich mit dem Kanu auf dem Butre River aus wie kein anderer. Tony hat nach einem Motorradunfall verkrüppelte Beine.

„Die Menschen aus Europa halten das hier für das Paradies“, versucht Ellis im Dorf zu erklären. „Ihr müsst nur was draus machen!“ Und sie versuchen es ja, etwas unbeholfen. Da ist die Surfschule in der Nachbarbucht Busua, die im Moment aber wenn, dann nur freitags und samstags geöffnet hat. Da ist der Tourismusverein von Butre, der in irgendeiner nicht auffindbaren Bretterbude im Dorf seine Repräsentanz haben soll. Da ist Jobo, der sich die Kanutouren auf dem Fluss von Tony abgeguckt hat, aber sein Paddel vergisst, als es morgens um sieben losgehen soll. Und dann verprellt er die wenigen Kunden, indem er unter fadenscheinigen Gründen mehr Geld verlangt als vorher vereinbart.

Die Stimmung ist getrübt, als wir ins Mangrovenlabyrinth treiben, und Jobo mit seinem ausgeprägten Zahnfleischlächeln und den von Malaria oder Leberschäden gelb gefärbten Augen ohnehin etwas unheimlich. Die finstere Atmosphäre zwischen den hoch aus dem Wasser ragenden Wurzeln der salztoleranten, immergrünen Bäume und Sträucher im Mangrovenwald trägt nicht dazu bei, das zu ändern. Zurück auf dem Fluss und in der Sonne springen fliegende Fische aus dem Wasser. Reusen warten in der Uferböschung auf ihren Einsatz, ein Fischadler kreist über dem Boot. Paarungsbereite Affenweibchen schreien in der Ferne, zu sehen sind sie nicht. Jobo imitiert ihre Laute und erhält Antwort. Im dichten Dschungel am Ufer, der wie eine undurchdringliche grüne Wand wirkt und erst bei angestrengtem Hinsehen zum Leben erwacht, machen drei junge, hellgrüne Alligatoren ihr Nickerchen. Zu diesem Zweck sind sie erstaunlich hoch ins Gebüsch geklettert. Einer erschreckt sich vor unserem Kanu und purzelt ins Wasser, nicht ohne sich vorher mehrmals um seine eigene Achse zu drehen und gegen einige dicke Äste zu prallen.

Ellis ärgert sich über alles, was schiefläuft in der Bucht von Butre, und gibt sich die allergrößte Mühe, es seinen Gästen schön zu machen. Mächtig stolz ist er auf einen Herrn im mittleren Alter aus Ostdeutschland, der in beigefarbenen Unterhosen schwimmen geht und jeden Abend sagt: „Übrigens, ich bleibe doch noch eine Nacht länger“. Und auf seinen einzigen Angestellten, einen stillen Jungen, der viel mit Fegen beschäftigt ist. Ellis hält ihn für demütig und treu, denn bekommt er hier nicht genug zu essen und Familienanschluss noch dazu? Doch auf die Frage, ob er seinen Job mag, stellt der Junge die Gegenfrage, ob man denn einen anderen für ihn hätte. Mangels Vertrauen in Hausangestellte aus Butre macht Ellis inzwischen sowieso das Allermeiste selbst: die Führung über sein Land, die Beaufsichtigung der Handwerker, die die Wetterunterstände am Chalet umständlich mit einer Regenplane beziehen. Das Kartoffel-Reis-Curry zum Abendbrot, die pochierten Eier zum Frühstück. Und zwischendurch erzählt er und erzählt.

Als die Sonne wandert, scheucht er seine Gäste von den schiefen Treibholzmöbeln in der westlichen Strandhütte auf und trägt die mit buntem Polyester bezogenen Schaumstoffkissen in die östliche Hütte. Nach Einbruch der Dunkelheit lässt er seinen jungen Bediensteten Bambusrohre senkrecht in den Sand stecken und anzünden. Ein Lagerfeuer unter dem Mond, ist es nicht das, was Touristen wollen? Die Bambusrohre ziehen Luft und lodern schnell und heftig auf. Der Wind trägt die Funken beängstigend nah an das Strandhüttendach aus getrockneten Palmwedeln heran. Eine alte Dame im blutroten Kleid, mit einem blutroten Kissen auf dem Kopf, auf dem sie trotz ihres gebeugten Rückens einige Einkäufe sicher transportiert, stapft durch die flirrende Luft bei den Flammen. Sie zieht ein Kind an der Hand hinter sich her. Eine verschwommene Szene wie aus einem uralten Märchen. Ellis kommt nach seinem geschäftigen Tag nun zur Ruhe, zündet sich einen Joint an und stimmt sich auf eine letzte Rolle ein. Die des Urlaubskavaliers.

Möchte man denn, dass er mit all seinen Mühen Erfolg hat? Liegestuhl- und Sonnenschirmplantagen, Partymusik und Cocktail-Flatrate braucht der Butre Beach wahrhaftig nicht. Aber sie werden kommen. Eigentlich ist schon die Raggaemusik am Chalet zu viel Zivilisation für dieses unbefleckte Stück Natur. Eigentlich sind schon die vier jungen Amerikanerinnen, die für nichts und niemanden feingemacht in weißen Kleidchen auf ein Sonnenuntergangsbier vorbeikommen und am nächsten Tag gelangweilt wieder abreisen, Vorboten einer Szene, die hier alles kaputtmachen wird. Aber natürlich hätte Ellis Erfolg und ein gutes Einkommen verdient. Und Solomon, der uns Urvertrauen und Demut lehrt. Und Francis, der zehn Jahre lang in einer Wäscherei in Busua gearbeitet und jeden Cedi gespart hat, bis er seine Lodge auf einem Meergrundstück bauen konnte. Mit einem Klo direkt neben dem Bett, mitten im Zimmer. Natürlich denkt man: nur ein bisschen stabileres Internet, ein bisschen mehr Getränkeauswahl, ein gefliester, kleiner Shop mit Keksen, eine Klotür – und Butre wäre wirklich das Paradies. Aber es gibt das eine nicht ohne das andere. Komfort nicht ohne Menschen, die das Paradies zerstören.Und so ist es letztendlich ein Privileg, die kleinen Unannehmlichkeiten und den Heißhunger auf Chips und Schokolade auszuhalten, um ein Stück Erde in einem so frühen Stadium der touristischen Erschließung erleben zu dürfen.

Reisetipps für die Bucht von Butre

Anfahrt

Es ist möglich, mit mehreren Trotros (regionalen Kleintransporter-Bussen) hintereinander von Cape Coast aus die weitläufigen Strände in der Western Region zu erreichen. Verschiedene Reiseblogger beschreiben dieses Abenteuer in ihren Beiträgen. Demnach ist das Vorhaben aber nicht zu unterschätzen. Die 100 Kilometer, die mit dem Auto für ortskundige Fahrer in drei bis vier Stunden machbar sind, nehmen mit dem Trotro den ganzen Tag in Anspruch. Die Anschlussbusse fahren nicht dort ab, wo der vorige Bus die Passagiere herausgelassen hat, Platz für Gepäck ist knapp.

Vom Dorf Butre aus ist es zu manchen Unterkünften ein längerer Spaziergang, der bei Ankunft nach Einbruch der Dunkelheit schwierig werden kann, zumal die Lodges schlecht ausgeschildert und schwer zu kontaktieren sind. Wer besser planen möchte, organisiert Hinfahrt und Abholung mit einem Fahrer (z.B. über das Hotel in Cape Coast oder über die Website eines Transferdienstleisters). Es muss ja kein klimatisierter Geländewagen mit Chauffeur im Anzug sein. Eine privat organisierte Fahrgelegenheit tut es auch und bietet Gelegenheit zum Gespräch mit Einheimischen.

Unterkünfte

In der Bucht von Butre gibt es mehrere Unterkünfte. Die hochwertigste ist die Fantas Folly Beach Lodge. Sie ist allerdings am weitesten vom Dort entfernt gelegen. Am nächsten dran liegt The Hideout, wo unser Zimmer jedoch einfach kurzfristig storniert wurde, weil eine Gruppenbuchung dem Betreiber mehr Einnahmen versprach. Der Green Zion Garden von Rastafari Ellis ist definitiv eine besondere Erfahrung, aber unser Favorit war am Ende Francis‘ Afro Beach Eco Resort. Die Unterkünfte haben alle keine eigenen Websites, sondern sind über Reiseportale oder Social Media buchbar.

Sehenswürdigkeiten

Die Uhren ticken in der Bucht von Butre langsamer und auch das Sightseeing-Programm kann man nicht als spektakulär bezeichnen. Aber wer mit der richtigen Erwartungshaltung kommt, hat die wunderbare Gelegenheit, einen einsamen Traumstrand vor dem Einfall des Massentourismus im ursprünglichen Zustand zu erleben. Es wird empfohlen, bei Ausflügen zur Sicherheit mit einem Guide unterwegs zu sein.

Auf einer Bootsfahrt mit Tony oder Jobo auf dem Butre River lassen sich Alligatoren und Mangrovenwälder bestaunen. Das verwitterte Fort Batensteyn aus der Zeit des Sklavenhandels bietet ein schönes Fotomotiv. Ein Sonnenuntergangsbier kann man an Ellis‘ Strandbar zu sich nehmen, nachdem man eine Wanderung ins Nachbardorf Busua, das touristisch etwas besser erschlossen ist, unternommen hat. Durch die Hitze und die Klippenhügel ist das allerdings anstrengender und zeitaufwändiger als es aussieht. Im Projekt Isopterra erklären (angehende) Bauingenieure und Architekten gerne ihre Vision vom ökologischen Häuserbau für Afrika: https://www.isopterra.org/.

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Die ganze Reportage gibt es hier:

Zwei Obrunis im Gewimmel
– Reisereportagen von Maja Roedenbeck

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PDF mit 76 Seiten und zwei Reportagen: Ghana und Rwanda, lesbar auf dem Kindle, Kaufabwicklung über Digistore24, kein Widerrufsrecht für digitale Produkte