Als ich am nächsten Morgen gegen 5.45 Uhr vom wunderschönen Sonnenaufgangsgesang der Fischer geweckt werde, interpretiere ich es als Lockruf der ungezähmten Welt da draußen und beschließe, eine kleine Wanderung zu wagen. Das ist für die Gäste absolut nicht vorgesehen, denn hier gibt es nichts außer weit abgelegenem ostafrikanischem Hinterland. Aber ich gehe einfach mal drauflos.
Zuerst geht es auf der besagten Straße, die ich für eine stillgelegte Sackgasse halte, die aber, wie sich später herausstellt, die Hauptzufahrtsstraße zum See ist, steil bergauf. Wollte man diese „Straße“ jemandem so beschreiben, dass er sie sich vorstellen kann, müsste man eher von einem ausgetrockneten Flussbett sprechen.
Irgendwann war das wohl mal eine einsfünfzig breite Schneise plattgetrampelter roter Erde auf einem Abhang. Dann kam die Regenzeit und das Wasser wusch beim Hinabfließen großzügig die Ränder weg. Es scheuchte Steine vor sich her, die aus dem weichen Lehm tiefe Rillen herauskratzten. Es bildete Strudel, die Krater ausspülten. Und dann war die Regenzeit vorbei und die Sonne buk aus der matschigen Masse eine Piste, die in der Hitze nun aufplatzte und Risse bildete. Ihre Kanten drifteten immer weiter auseinander, während die Erde aufging wie ein Kuchen, bis aus den Rissen ganze Furchen geworden waren. Und nun stehe ich vor kühlschrankgroßen Vertiefungen, für die das Wort „Schlagloch“ ein Euphemismus wäre, in die ich hinabklettern und aus denen ich mich auf der anderen Seite wieder hinaus hangeln muss. Bald sammelt sich eine Menschentraube um mich herum und ruft wieder einmal: „Muzungu! Muzungu!“. Anstatt mir die Hand zu reichen oder mir Tipps zu geben, wo ich am besten hintreten soll, stehen die Leute nur lachend da und schauen sich das Spektakel an. Ich lache freundlich mit, hoffe aber inständig, dass mir die Peinlichkeit erspart bleibt, ohne Hilfe nicht mehr aus einem der Löcher hinauszukommen.
Oben auf dem Berg wird es besser, man kann die Schotterpiste wieder Schotterpiste nennen. Hier liegt an einer Kreuzung der Ortskern von Kinunu. Der Schneider, der eine blaue Nähmaschine auf seine Hütte gemalt hat, hat geschlossen, weil es Sonntag ist. Einige junge Männer sitzen auf ihren geparkten Motorrädern und halten ein Schwätzchen. Ich biege in einen Weg ein, der im weiten Bogen wieder hügelabwärts Richtung See führt. Abgeerntete Bananen liegen auf Planen vor den Wohnbungalows aus, die aus Betonmauern und Dachziegeln bestehen, auf denen schon das Moos wächst. Freilaufende Ziegen und Truthähne tippeln mir vor die Füße. Einzelne Kühe stehen in Ställen aus dicken Ästen, die zu einem Karomuster zusammengesteckt sind. Dünnere Ästen mit vertrocknetem Laub wurden dazwischen geklemmt, bis die jeweilige Kuh lückenlosen Schatten hat. Den Kopf steckt sie durch ein Fensterchen, unter dem sich ihr Trog befindet. Auch Zäune, Sichtschutzwände, Unterstände und Brücken werden aus kerzengerade gewachsenen Ästen zusammengesetzt, ganz ohne Nägel und Schrauben, scheint mir.
Ein Kind, vielleicht zehn Jahre alt, läuft mit einem Sack Kartoffeln auf dem Kopf in dieselbe Richtung wie ich und kommt neugierig heran. Auf seinem T-Shirt steht „Dream big“. Nachdem wir ein paar Worte über Schule und Geschwister ausgetauscht haben, während wir nebeneinander her gehen, fragt es nach Geld. Ich bin ein wenig enttäuscht, dass das Interesse an einer fremden Besucherin allein nicht Grund genug ist, um ein Gespräch zu beginnen. Aber das ist wahrscheinlich naiv. Bei den nächsten Kindern, und es kommen noch einige, lächele ich freundlich, lasse mich aber nicht mehr auf längere Gespräche ein.
Auch in dieser entlegenen Provinz gibt es eins der Völkermord-Memorials. Abgesehen davon, dass „Genocide never again“ auf dem Giebel steht, erkennt man es leicht daran, dass es viermal so groß ist wie die Wohnhäuser und aus nagelneuen Baustoffen besteht. Die Dachziegel reflektieren die Sonnenstrahlen, die Außenmauern wirken wie gerade frisch gestrichen. Inmitten der ländlichen Umgebung wirkt die Gedenkstätte so deplatziert wie ein eingeflogenes Ufo.
Gerade als ich beginne, meine Befürchtungen, dass ich mich verirren könnte, abzuschütteln und meine kleine Wanderung ins Ungewisse wirklich zu genießen, kommt mir ein Mann in einer Serpentinenkurve entgegen. Ich denke noch darüber nach, welch tiefen Einblick in eine andere Welt ich hier erhalte und wie wunderbar frei es sich anfühlt, meines Weges zu gehen, ohne dass irgendjemand außer der Sonne weiß, wo ich gerade bin, da entdeckt mich der Mann und beginnt, schrille Pfiffe auszustoßen. Wie ein Feueralarm hallen die Warnungen ins Tal und ich kann nicht fassen, dass wieder einmal jemand denkt, dass ich Böses im Schilde führen könnte. Ich: eine Frau, körperlich ohnehin nicht besonders gestählt, aber nun ohne Wasser und Sonnenhut nach zweistündiger Wanderung über Stock und Stein zusätzlich erschöpft. Aufgrund des spontan beschlossenen Aufbruchs habe ich nichtmal einen Rucksack dabei, in dem man Waffen oder ähnliches vermuten könnte. Was wollen sie denn vor mir verstecken? Was befürchten sie, dass ich tun könnte?
Aber ich bin eben nicht die erste Weiße, die sich in Ostafrika herumtreibt. Generationen vor mir haben ein nachhaltiges Trauma hinterlassen. Angefangen bei den Karawanen, die früher in diesen abgelegenen Dörfern vorbeikamen, und die der deutsche Forscher Richard Kandt in seinem Werk „Caput Nili – Eine empfindsame Reise zu den Quellen des Nils“ [Affiliate Link] als „Krebsleiden für jede Kolonie“ bezeichnet. Die Reisenden, oft weiße Forscher mit ihren Trägern, Köchen und anderen Angestellten, aber auch Händler und „Küstenleute“ anderer ausländischer Abstammung, waren nicht gern gesehen: „Da tauchen eines schönen Tages in einem armseligen Dorfe ein paar hundert, ja selbst tausend wildfremde Menschen auf und verlangen Essen, Brennholz usw.. Aber woher alles nehmen, ohne sich selbst völlig zu entblößen. Auch wenn Zahlung erfolgt, was überhaupt nicht immer der Fall ist […] – so ist damit den Eingeborenen noch lange nicht gedient. Was nützt es ihnen, wenn sie die Hütten mit Stoffen und Perlen vollpfropfen können, wenn ihnen das letzte Stück Vieh geschlachtet, die letzte Maniokwurzel aus den Feldern gezogen, das letzte Stück Holz verbrannt und der letzte Tropfen aus ihrem kümmerlichen Wasserloch getrunken wird. Weigern sie sich aber, ihr Eigentum zu verkaufen, so ist ihr Schicksal besiegelt. Denn hunderte von hungrigen Mägen verlangen befriedigt zu werden. Nun findet der berühmte ‚Zwangskauf‘ statt, der in den Reisewerken öfter erwähnt und noch öfter verschwiegen wird, d.h. die Karawane nimmt, was sie braucht, und bestimmt selbst den Wert des Gekauften, oder wenn sich die Eingeborenen mit Recht dem widersetzen, so wird einfach mit Pulver und Blei bezahlt.“
Der Mann auf der Serpentinenstraße geht weiter, seine Pfiffe verhallen. Ein Schild zeigt an, dass ich nun den Congo-Nile-Trail kreuze, einen Fernwanderweg hoch über dem Ufer des Kivusees. Er verläuft auf einem Berggrat, der sich dadurch auszeichnet, dass das Regenwasser, das auf dem östlichen Abhang aufkommt, hinab zum Nil fließt, während das Regenwasser auf dem westlichen Abhang im Congo landet. Laut Maps.Me führt der Trail durch eine Bananenplantage hinunter zum See und dann grob in die Richtung, in der die Safarilodge liegen müsste. Ich versuche, dem Trampelpfad zu folgen, habe mich aber bald in der Plantage verlaufen. Hier sind überall Fußspuren. Und Stauden, soweit das Auge reicht. Ich balanciere auf zwei Brettern über ein ausgetrocknetes Flussbett, hinter dem der Weg nicht weitergeht, drehe wieder um und probiere eine andere Richtung. Langsam hängt mir der Magen auf dem Boden und ich könnte ein Frühstück vertragen. Einen Liter Wasser sowieso.
Wieder denke ich an Richard Kandt, wie er an einem 3. November um die Wende zwischen 19. und 20. Jahrhundert in regnerischem Wetter beim Jagen nach einer Kuhantilope von der Dämmerung überrascht wurde und sich verirrte. Darüber schrieb er: „Oft gerate ich in dichtes Dorngestrüpp, aus dem ich mich nur mit zerrissenem Zeug und blutigen Händen herausarbeite, oder eine am Boden kriechende Schlingpflanze packt mich an den Füßen und verwickelt sich in die Schnüre meiner Schuhe. Zweige schlagen mir ins Gesicht, Baumstämme kreuzen hindernd meinen Weg, oder ich versinke mit einem Bein in das Erdloch eines Wildschweins. Bisweilen fährt schwirrend ein Vogel neben mir auf, dass ich von dem plötzlichen Geräusch erschreckt zur Seite springe, oder die dunklen Umrisse eines Termitenbaus veranlassen mich, mit dem Gewehr im Anschlag klopfenden Herzens still zu stehen und den Angriff eines Raubtiers zu erwarten.“
Dagegen sind meine Irrungen in der Bananenplantage harmlos. Nach einigen weiteren erfolglosen Vorstößen ins Dickicht treffe ich einen Vater mit zwei kleinen Kindern. Die drei geleiten mich zur Straße zurück, wenig gesprächig und leider zu der Kreuzung des Congo-Nile-Trails, an der ich vor einer halben Stunde in die Bananenplantage eingebogen bin. Ob die Wanderung doch nicht glücklich ausgehen wird und ich den ganzen Weg wieder zurück laufen muss? Ich versuche etwas näher am Seeufer noch einmal, mich nach Norden zu schlagen, und diesmal gelingt es. Der Trampelpfad führt, jedenfalls von der Himmelsrichtung her, auf eine grüne Klippe zu, hinter der ich die Unterkunft vermute. Brücken aus zusammengebundenen Ästen führen mich über immer breitere Furten, durch die wohl zu anderen Jahreszeiten das Regenwasser in den See rauscht. Mit welcher Gewalt, das erkenne ich an der dritten Furt, denn hier ist die Brücke eingestürzt. Ein Erdrutsch scheint sie mit sich gerissen zu haben. Ratlos stehe ich vor dem Hindernis. Aber es hilft nichts, umzukehren kommt nicht mehr infrage. Ich habe ja nichtmal ein paar Rwanda Francs in der Hosentasche, mit denen ich mir in Kinunu eine Flasche Wasser kaufen könnte. Also mobilisiere ich an Kraft, was noch da ist, und lasse mich die steile Böschung hinab in die Furt rutschen…
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Die ganze Reportage gibt es hier:
Reisereportagen
von Maja Roedenbeck
PDF mit 76 Seiten und zwei Reportagen: Ghana und Rwanda, lesbar auf dem Kindle, Kaufabwicklung über Digistore24, kein Widerrufsrecht für digitale Produkte