Müll im Meer: Die Flip Flop-Fische von Airlie Beach

Zwei mannshohe Fische aus einzelnen Flip Flops und zerbeulten Trinkflaschen zieren das Eingangstor der kleinen, gemeinnützigen Umweltorganisation Eco Barge Clean Seas in Airlie Beach an der Ostküste Australiens. Sie sehen süß aus, doch sie sollen die Gemeinde bewegen, ein globales Problem direkt vor der Haustür anzupacken.

Jane schüttet den Inhalt eines schmutzigen weißen Sackes auf den Sortiertisch in der Wellblechscheune mit der kuriosen Adresse „auf halber Strecke der Boatyard Road“. Um dorthin zu gelangen, sind die Freiwilligen heute Morgen bei Flut durch knietiefes Wasser gewatet. Aus Janes Sack fallen einzelne Flip Flops, löchrige PET-Flaschen, zwei Zahnbürsten, Bruchteile von Plastikstühlen, ein zum Klumpen verwickeltes Fischernetz und jede Menge weiterer mariner Müll. Eine Spinne und eine Kakerlake, die es sich dazwischen gemütlich gemacht hatten, krabbeln auf der Suche nach einem neuen Versteck hektisch herum.

„Was denkt ihr, was wir bei unseren Müllsammelausfahrten mit dem Boot entlang der Strände und Küsten am häufigsten finden?“, fragte Jane die vier Frauen, die heute angetreten sind, um beim Sortieren zu helfen. „Flaschendeckel?“, tippt Leah und liegt damit richtig. In Australien gibt es noch kein Tethered-Caps-Gesetz, das in der Europäischen Union das Deckelproblem eindämmen soll. Stattdessen gibt es unterschiedliche Regelungen in den Bundesstaaten, teils ist es sogar Pflicht, die Deckel zu entfernen, bevor die Flaschen ins Recycling gegeben werden, erklärt Jane. Die Konsumenten sind verwirrt, noch öfter aber auch einfach achtlos. Verpackungsmaterialien, Kleidungsstücke und Gebrauchsgegenstände werden am Strand zurückgelassen oder aus Versehen von Bord fallen gelassen. Größere Teile wurden wahrscheinlich eher von Stürmen ins Meer gespült oder als Industriemüll absichtlich entsorgt.

Das Urlaubsörtchen Airlie Beach ist bekannt als Ausgangspunkt für Bootsausflüge zum Great Barrier Reef und zum Inselparadies Whitsunday Islands. Touristen kommen, um den puderigen Sand am sieben Kilometer langen Whitehaven Beach unter den Füßen zu spüren oder schnorchelnd einen Clownfisch zu beobachten. Doch nicht nur Bali, dessen vermüllte Strände und Küsten immer wieder in Social Media-Reels um die Welt gehen, hat Probleme mit angeschwemmtem Abfall, sondern auch Australiens Ostküste. Der Müll macht keinen Unterschied zwischen Industriestaaten, Entwicklungs- und Schwellenländern. Das Backpacker-Paradies wäre eine Plastikhölle, wenn es nicht Menschen wie Libby Edge gäbe, die Eco Barge Clean Seas im Jahr 2009 gegründet hat. „Bildung und Aufmerksamkeit sind unsere zentralen Anliegen“, sagt sie. „Wir arbeiten aktiv mit der Gemeinde zusammen, um das Bewusstsein für Meeresmüll zu schärfen, eine verantwortungsvolle Abfallentsorgung zu fördern und die Öffentlichkeit darüber zu informieren, wie sie mit verletzten Meeresschildkröten umgehen soll.“

Ihre Umweltschutzorganiation hat nach eigenen Angaben bei rund 520 Bootstouren bereits 260.000 Kilo marinen Müll gesammlt und davon 2.000 Kilo wieder nutzbar gemacht sowie knapp 300 Schildkröten, die sich im Müll verfangen oder verletzt hatten, aufgepäppelt. Was sie dabei besonders macht, ist in einem Nebensatz von Libbys Aussage versteckt: Es ist der lokale Ansatz. In Zeiten, in denen große Non-Profits effizienzgesteuert wie Wirtschaftsunternehmen gemanagt werden und Hochglanz-Marketingkampagnen auffahren, die es mit Produktwerbung aufnehmen können, gibt es hier eine noch verhältnismäßig junge Organisation, die mit viel hemdsärmeligem Engagement ein weltweites Problem auf die Gemeinde herunterbricht. Denn ja, auch in einer Gesellschaft mit flächendeckend guter Bildung fehlt es an einfachstem und zugänglichem Wissen zum Umweltschutz in den Weltmeeren.

Die globalen Zahlen zum Müll im Meer bleiben vage – und vielleicht deshalb ja auch für die Erdbevölkerung so wenig greifbar und persönlich relevant. Der WWF spricht von 4,8 bis 12,7 Millionen Tonnen Plastik, die jährlich in die Meere gelangen. Klingt schrecklich viel, aber wie viel ist das eigentlich, und warum diese große Spanne? Was soll ich als einzelner, kleiner Mensch schon dagegen tun? Libby Edge ärgert sich über einen Artikel in der Lokalzeitung, in dem ein Journalist schrieb, ihre Organisation habe 260 Kilo (statt korrekt 260.000 Kilo) Meeresabfall gesammelt. Ihm fiel nicht einmal auf, dass das viel zu wenig ist, weil die Zahlen letztlich Schall und Rauch sind, wenn man nicht betroffen ist. Beim GEOMAR Helmholtz-Zentrum für Ozeanforschung in Kiel heißt es: „Bisher sind geschätzt mehr als 100 Millionen Tonnen Plastikmüll ins Meer gelangt. Weniger als 1 Prozent treiben an der Meeresoberfläche und 33 Prozent haben sich entlang der Küsten und auf dem Meeresboden abgelagert. Weitere 27 Prozent des Plastikmülls befinden sich in Küstengewässern und 39 Prozent im offenen Meer zwischen der Wasseroberfläche und dem Meeresboden.“

Die 27 Prozent in den Küstengewässern sind die, denen sich die bislang 2.500 freiwilligen Helfer bei Eco Barge Clean Seas widmen. Rund 13.000 einzelne Volunteer-Einsätze haben sie bereits absolviert. Und wer einmal auf der Eco Barge (dem „Öko-Lastenkahn“) zum Müllsammeln mit hinausgefahren ist und hinterher den Muskelkater in den Armen spürt, oder in der Scheune mit Staunen und Entsetzen gesehen hat, welche kuriosen Gegenstände in welchen rauen Mengen allein in einem kleinen Örtchen wie Airlie Beach aus den Säcken purzeln, der vergisst das nicht mehr – und ändert vielleicht sein Verhalten.

Die Volunteers sind eine bunte Mischung aus Touristen, die die Nase voll vom Sightseeing haben, Rentnern, die Beschäftigung suchen, und Menschen in Umweltberufen, die auch in ihrer Freizeit ihrer Überzeugung folgen wollen. Jane ist seit vier Jahren dabei. Die Lehrerin im Ruhestand hat zuerst noch Einsätze als Vertretungslehrerin absolviert. „Dann habe ich ehrenamtlich Bäume gefällt, die drohten, auf Häuser zu stürzen.“ Dabei habe sie viel Dankbarkeit und individuelle Schicksale miterlebt, denn die Besitzer hatten sich oft jahrelang mit der Entscheidung schwergetan. Als die harte körperliche Arbeit Jane zu viel wurde und sie und ihr Mann Lust auf einen Tapetenwechsel bekamen, zogen sie nach Airlie Beach. Dort macht Jane nun bei Eco Barge mit. Unanstrengend ist die Arbeit auch hier nicht. Die vollen Müllsäcke sind so schwer, dass sie zu dritt in die Scheune gezogen werden müssen.

Als Pädagogin bringt Jane wichtige Kompetenzen mit, um die Volunteers anzuleiten: Meeresbiologin Leah ist erst vor kurzem mit ihrem Freund von Mackay nach Airlie Beach gezogen und sucht Anschluss im Ort. Maria ist mit dem Bus aus dem Nomads Hostel gekommen. Und die Journalistin im Australien-Sabbatical, sonst eher Schreibtischtäterin, packt auch mit an. Der örtliche Tischler schaut vorbei, aber er will nicht helfen, sondern das gesammelte Treibholz abholen. Vielleicht kann er davon etwas gebrauchen. Kerry aus Perth betreibt zwei Ausflugsboote und genießt es, beim Freiwilligendienst jemanden zum Plaudern zu haben. Sie ist für die Unterhaltung zuständig und erzählt beim Arbeiten eine Anekdote nach der anderen: dass ihr Hund heute Morgen Schokolade aus dem Schrank stibitzt und auf dem Teppichboden verschmiert hat. Dass es einen Umweltschutzpreis gibt, der nach ihr benannt ist und den sie jedes Jahr überreichen darf. Dass sie bei einem Kneipenwettschwimmen mitgemacht hat.

Allerdings verlangt das Sortieren auch eine gewisse Konzentration. Während Schuhe aus Leder oder Stoff in die Rubrik „Kleidung“ gehören, werden Flip Flops auf dem Stapel „Gummi“ gesammelt. Plastikteile gehören zu „Hartplastikreste“, wenn man nicht mehr erkennt, was sie einmal gewesen sind. Sie können aber auch konkreter unter „Haushaltsgegenstände“ (Kleiderbügel, Blumentöpfe) oder „Körperhygiene“ (Zahnbürsten, Shampooflaschen) eingeordnet werden. Manchmal ist es einfach Auslegungssache. Aber es ist wichtig, sich ernsthaft Gedanken zu machen, was wohin gehört, denn: „Nach dem Sortieren wird der Müll gezählt und gewogen“, sagt Jane. „Die Daten werden an die Australian Marine Debris Initiative (AMDI) Database, ein nationales Register für Meeresabfall, übermittelt und beeinflussen die Umweltgesetzgebung.“ Könnte es zum Beispiel zukünftig eine Regelung geben, die die Gummibeschichtung an Stegen verbietet? Sie soll eigentlich die Bootswände schützen, wird aber von den Schiffskörpern stattdessen abgehobelt und landet im Wasser.

Solche Überlegungen und die Lobbyarbeit auf politischer Ebene überlässt Eco Barge Clean Seas vorerst anderen. Libby Edge träumt stattdessen davon, ein Education Center aufzubauen und Kurse für Schüler, Bürger und Touristen zum Thema Umweltschutz am und im Meer anzubieten. Aktuell kommt bereits manchmal eine Gruppe Kinder mit Beeinträchtigungen zum Helfen vorbei. Dann müssen Aufgaben improvisiert werden, die zu ihren Kompetenzen passen. Denn mit dem Sammelsurium aus den Sammelsäcken wären sie überfordert. Auch experimentiert die resolute Gründerin damit, aus dem Meeresabfall Schmuck, Toilettendeckel, Sitzflächen für Stühle und Tischplatten herzustellen, die vielleicht verkauft werden können. Dazu wird er geschreddert und mit flüssigem Kunstharz übergossen. Und nicht zuletzt führt sie Wiederverwertungstechniken vor, die den Menschen in Entwicklungsländern längst bekannt sind: So können Trinkflaschen, die mit geschreddertem Plastik gefüllt wurden, als so genannte Ecobricks („Ökoziegelsteine“) zum Häuser- oder Wegebauen verwendet werden. Welche Verwendungsmöglichkeit könnten sich die Australier davon abschauen, um aus ihrer Plastikplage etwas Positives zu machen?

Doch diese Betätigungsfelder bleiben vorerst Zukunftsträume. In der harten Realität einer kleinen Umweltorganisation geht die meiste Zeit für das Fundraising drauf. Auch die Öffentlichkeitsarbeit, die Rekrutierung und Anleitung von Freiwilligen, die Betreuung der verletzten Schildkröten und die zentrale Umweltarbeit an den Stränden und der Küste werden von Libbys Kernteam koordiniert und ausgeführt. Und dann ist da noch der Plastikmüll, der ungefragt vor das Tor gestellt wird, weil die Leute annehmen, Eco Barge Clean Seas werde sich schon kümmern. Das ist zwar eigentlich nicht so gedacht, aber stehen bleiben kann er da schließlich auch nicht. Und so sind Jane und ihr Freiwilligenteam zwar für heute fertig, als der Müll nach dem Sortieren, Zählen und Wiegen zum Teil wieder zusammengeworfen und auf die klassischen Restmüll-, Glas- und Recyclingtonnen verteilt und zum Teil für die Aufbereitung beiseite gestellt wird. Doch zu tun bleibt noch genug. Wenn die Wirbelsturmsaison vorbei ist, wird der „Öko-Lastenkahn“ wieder in See stechen und mit Sicherheit mit vielen neuen Säcken voller marinem Müll zurückkehren.