Kurzgeschichte: Matthias Ginnberger zittert nicht

Diese Kurzgeschichte von Maja Roedenbeck hat beim 4. Literaturpreis der Rosenstadt Sangerhausen im Jahr 2008 den 3. Platz belegt.

Triggerwarnung: In diesem Text geht es um sexuelle Gewalt. Bei manchen Menschen kann dieses Thema negative Reaktionen auslösen. Bitte sei achtsam, wenn das bei dir der Fall ist.

Heut ist so ein Tag, an dem Matthias Ginnberger mal wieder vorführt, dass Lampenfieber bei ihm keine Chance hat. Wenn es kommt, nicht mal ne Stunde vor der Prüfung, ringt er es nieder, mit purem Willen auf die Matte, rotzt die Klausur hin und geht nach Hause. Und da genießt er es dann zu spüren, wie das Lampenfieber verdrossen zurückweicht, weil es mit Pauken und Trompeten an einem Kerl wie ihm gescheitert ist. Ginni ist so was von gut im Lampenfieber Niederringen. Die anderen, die zittern vielleicht, er nicht. Und das ist nicht nur Fassade. Ginni hat es wirklich drauf, Lampenfieber ist ihm arschegal. Genau deshalb hat ihn Conny doch auch verlassen, letzten Dienstag.

„Anfangs hab ich ja noch geglaubt, du spielst das bloß“, hat sie gemeint, nachdem sie ihm verboten hatte, sie jemals wieder in der Öffentlichkeit bei der Hand zu nehmen, „Außen cool, innen weich wie’n Softeis. Aber ich hab das Softeis in dir nie gefunden. Ich wollt es lieb haben, wollte die einzige sein, die davon weiß, von dem Softeis. Aber du hast gar keins. Außer cool ist nichts in dir drin, kein Geheimnis oder so was. Das ist mir zu viel cool.“ Hat Conny gemeint und ist dann gegangen. Ginni ist danach nicht sonderlich aufgewühlt gewesen. Hat sein Weltbild halt ein wenig umsortieren müssen. So einen wie Ginni nimmt nichts so richtig mit. Gut, er hat jetzt auch noch nie ne explodierte Fresse gesehen oder so’n einstückiges Zwillingsbaby mit zwei Köpfen. Aber genau das ist ja so arschkomisch: So einer wie Ginni, der gerät eben nicht in etwas Uncooles. In Ginnis Welt ist alles cool. Er ist cool. Es ist nicht so, dass er absichtlich vor dem uncoolen Rest die Augen verschließen würde, der uncoole Rest passiert schlicht an Ginni vorbei.

Setzt er sich also hin, schlägt den Fragebogen auf. Stellt demonstrativ nichts zu trinken auf den Einertisch, weil er weiß, dass er nicht schwitzen wird wie alle anderen. Die erste Frage, Ginni liest: „Welche sechs Verhaltenshinweise propagiert die Polizei in ihrer „Initiative für mehr Zivilcourage“?“ Ja. Ja, das haben sie durchgenommen. Vor fünf, sechs Wochen ist das gewesen: Der Gastmensch von der Polizei hat an der Tafel gestanden, Ginni hat den Stehkragen seines dunkelblauen Poloshirts noch kurz doof gefunden, bevor der Gastmensch zu schreiben anfing. „Erstens:“ hat er geschrieben, mit einem steifen Handgelenk, weil er das noch nicht oft gemacht hatte, mit Kreide auf einem senkrecht an der Wand hängenden Stahlemaillebrett zu kratzen, „Ich helfe, ohne mich selbst in Gefahr zu bringen.“ Ginni sieht vor seinem inneren Auge die Buchstaben an der Tafel Gestalt annehmen. Er schiebt den Fragebogen von sich weg, zieht den linierten Schreibbogen zu sich hin, klappt ihn auf und schreibt: „Matthias Ginnberger.“ Leerzeile. „Frage Eins.“ Leerzeile. „Erstens: Ich helfe, ohne mich selbst …“

Kirschrote Kreise. Honiggelbe Punkte. Schwirren durch Ginnis Augen. Was war das. Arschverdammte Kacke, Mann, was war das? „Ey Ginni, krieg dich wieder ein“, denkt Ginni. Liest, was er bisher geschrieben hat: „Ich helfe, ohne mich selbst …“ Kirschrote Kreise. Honiggelbe Punkte. Schwirren wieder durch Ginnis Augen. Das ist doch nicht normal. Das kann doch jetzt nicht wegen dieser arschbescheuerten Prüfung sein. Connys Augen starren ihn aus der Luft über seinem Einertisch an. Ob die so was gut fände? Kirschrote Kreise und honiggelbe Punkte, die durch Jungsaugen schwirren, meint sie das mit „Softeis“? Ginni schreibt „kirschrote Kreise honiggelbe Punkte“ auf seinen Handrücken. Herr Müller-Herzog kommt zwischen den anderen durchgeschlichen, fragt: „Na, Ginnberger, da hamse wohl watt falschrum verstanden. Spickzettel machen se sich ma schön zu Hause, nich ers inner Prüfung! Un jetz lassense ma ihr Händchen in Frieden ruhn und wenden sich wieda dem Papier zu, hammer datt?“ Ginni versucht es. Sich dem Papier wieder zuzuwenden, aber er ist abgelenkt. Die kirschroten Kreise und die honiggelben Punkte sind immer noch da. Sie schwirren in seinen Augen wie eine Mücke auf Tollwut, er will sie verscheuchen, aber dann explodieren sie auch schon in sein Hirn hinein und lassen Dunkelheit zurück.

Die Dunkelheit einer Kleingartenkolonie zur nach-Party-Zeit. Ein schnurgerader, gepflasterter Weg zwischen den exakt abgesteckten Parzellen. Was soll das noch in seinem Kopf. Das ist doch alles hundert Jahre her. Ginni will die schwirrenden kirschroten Kreise und honiggelben Punkte zurück. Sieht aber vier schwarze Gestalten zwischen den brusthohen Hecken stapfen, sieht seine eigenen Füße, wenn er in die Dunkelheit hinunterschaut. Seine Füße, die den Gestalten hinterher gehen, ohne zu wissen, wann sie damit angefangen haben. Ginni weiß wer die Gestalten sind, das sind Ricki, Dennis und Maik, sie tänzeln wie die Schatten von Tick, Trick und Track in einem animierten Mickey Mouse Comic. Die vierte Gestalt tänzelt nicht, sie taumelt eher. Das ist Tina. Ginni weiß nicht, ob die Gestalten wissen, dass er da ist. Er bildet sich ein, sie wissen es nicht. Er beruhigt sich damit, dass sie, wenn sie es wüssten, gleich merken würden, dass sie ihn kennen, und dass sie ihn dann in Ruhe lassen würden. Geht weiter hinter ihnen her.

Die drei Jungs schubsen das taumelnde Mädchen durch die Kolonie, probieren nacheinander die Gartentörchen. Die meisten sind abgeschlossen. Aber dann kommt eins, das ist offen. Sie schubsen das Mädchen in den Garten rein. Lassen das Törchen offen stehen. Ginnis Füße nehmen das als Einladung, sie gehen hinterher. Ginni hat zu dem Zeitpunkt schon zwei Seelen. Er hat nicht gewusst, dass das so schnell gehen kann mit der Schizophrenie. Die eine Seele sieht jetzt schon völlig klar, dass da was falsch läuft. Dass da gleich was arg Schlimmes passieren wird und dass Ginni irgendwie daran beteiligt ist, als so eine Art guter Cowboy, immer zufällig zur rechten Zeit am rechten Ort, der mit seiner tiefen Stimme und dem Hahn seines Revolvers aus der Dunkelheit Licht machen muss. Nur: Die Seele, die das so sieht, ist die Guckseele. Die kann nichts machen, die kann bloß gucken. Die andere Seele, die Machseele, die findet das, wenn Ginni jetzt mal ganz ehrlich ist, schon faszinierend. Schließlich kriegt man so was nicht alle Tage zu sehen: drei Klassenkameraden und ein besoffenes Nachbarsmädchen in einer nachtbehängten Gartenkolonie, das ist ja was anderes als der nächstbeste bremsende Autobus. Ricki bricht die Schuppentür auf, geht rein [WEITERLESEN]

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Die ganze Kurzgeschichte „Matthias Ginnberger zittert nicht“ gibt es hier:

MaMagazine – Ausgabe No. 02/2025

Inhalt

  • Künstlerportrait: Jedes Selfie könnte das letzte sein – Seite 2
  • Reisebericht aus Ghana: Wo sich die Seelen der Verstorbenen treffen – Seite 7
  • Kurzgeschichte: Uwe und das Mädchen – Seite 17
  • Rezension: Liebe und Anarchie – Seite 21
  • Gedicht: Szene in Rot – Seite 24
  • Kolumne: Wer will schon die weise, alte Morla sein? – Seite 25
  • Kurzfilmprojekt: „Nicht so viel darüber nachdenken, was andere von mir halten“ – Seite 28
  • Gedicht: Stilles Kind – Seite 31
  • Reisebericht aus Australien: Wo das harte Leben Kunst inspiriert – Seite 32
  • Kurzgeschichte: Matthias Ginnberger zittert nicht – Seite 37
  • Künstlerportrait: Drei junge Musikerinnen zum Niederknien – Seite 40
  • Travel report: Where a hard life inspires art – Seite 45

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