Natürlich gibt es auch Kunden, die unfreundliche Nachrichten ohne jedes Grußwort schicken („Noch zu haben?“), Fotos von der gebrauchten Jeans aus allen möglichen Perspektiven verlangen und am Ende doch nicht zum vereinbarten Abholtermin kommen. Mit denen machen Online-Kleinanzeigen keinen Spaß. Aber meistens geben mir die Menschen, die sich auf meine Inserate melden, in Zeiten von Kriegen, Trump und Co. den Glauben daran zurück, dass ein harmonisches Miteinander auf diesem Planeten doch noch möglich ist.
Noch vor sieben Uhr am Sonntagmorgen klingelt eine Nachricht von kleinanzeigen.de auf meinem Smartphone. Das macht nichts, denn ich bin wie immer schon seit sechs Uhr wach. Es geht um den karierten Minirock von H&M, aus dem ich das Innenfutter herausgeschnitten habe. Es tendierte dazu, an meinem Oberschenkel hochzurutschen, bis mir der Rock gefühlt unter den Achseln saß und der Po unten rausguckte. „Guten Morgen Maja!“, steht da, „Wie groß ist denn bitte die einfache Bundweite in cm? Viele Grüße, Jürgen“.
Als ich zurückschreibe, dass die Bundweite bei 40cm liege, der Bund aber nicht auf den Hüftknochen sondern in Höhe des Bauchnabels sitze, wirkt Jürgen ganz unglücklich. „Das ist ein guter Hinweis für jemanden, der keine Röcke trägt! Da muss ich wohl doch die Siggi einbinden, auch wenn der Überraschungseffekt dann weg ist“, schreibt er. Ist das nicht süß? In diesem für Juni viel zu feuchtnebeligen Morgengrauen sitzt irgendwo in Deutschland ein Jürgen am Computer und überlegt, wie er seiner Sigrid eine Freude machen kann. Vielleicht stehen Marmeladentoast und Kaffee auch schon fertig auf dem Tisch.
Kleinanzeigen machen glücklich
Zwei Tage verstreichen, inzwischen rechne ich schon längst nicht mehr damit, dass Siggis Oberbauch in meinen Schottenrock passt, da meldet sich Jürgen nochmal: „Hallo Maja! Sorry, aber 40cm sind aktuell leider zu wenig. Viele Grüße und ein schönes Wochenende!“ Was für ein freundlicher Mensch. Als würden wir uns persönlich kennen. Und wie liebevoll er über Siggis Bauchspeck spricht! Als habe er größtes Vertrauen, dass seine Liebste, die „aktuell“ nicht ihr Traumgewicht hat, bald wieder im Minirock am Start ist.
Ich wünschte, ich könnte eine Nähmaschine bedienen, dann würde ich den Rock eigenhändig passend schneidern. Weil es so schön ist, sich angesichts einer Scheidungsrate von 36 Prozent (im Freundeskreis gefühlt 99 Prozent) ein Pärchen wie Sigrid und Jürgen vorzustellen. Meine These: Kleinanzeigen machen glücklich!
Mehr Geld durch Storytelling
Soll mich mein Sohn doch auslachen, weil ich mir „im Ernst“ die Mühe mache, einen 20cm hohen Kaktus einzustellen. Mit Übertopf für 10 Euro, ohne für 5. Ich schreibe auch immer eine kleine Geschichte dazu, weil sich die Sachen dann besser verkaufen. Das weiß jede*r Marketingstudent*in seit dem „Significant Objects“-Experiment der Sprachwissenschaftler Rob Walker und Joshua Glenn aus dem Jahr 2009. Sie steigerten den Verkaufswert von Flohmarktgegenständen um 7.600 Prozent, indem sie ausgedachte Hintergrundstories dazu in die Kleinanzeigen schrieben – hier das Buch zum Experiment auf Englisch [Affiliate Link], hier eine Zusammenfassung auf Deutsch.
Wobei meiner Meinung nach bei dieser Storytelling-Studie hätte berücksichtigt werden müssen, dass gebrauchte Dinge erfahrungsgemäß online immer mehr Geld bringen als auf dem Flohmarkt. Im Internet ist der Kreis möglicher Interessent*innen einfach größer. Auf dem Flohmarkt dagegen wissen die Kund*innen, dass kein*e Verkäufer*in Lust hat, das ganze Zeug wieder nach Hause zu schleppen, und haben beim Handeln den Vorteil auf ihrer Seite. Wenn Walker und Glenn das einkalkuliert hätten, wäre der Effekt vielleicht nicht ganz so deutlich ausgefallen, aber sicher trotzdem da gewesen.
Erinnerungen an einen Kaktus
Also kurz überlegen: Woher habe ich den Kaktus? Wie lange befindet er sich schon in meinem Besitz? Welche schönen Erinnerungen verbinde ich damit und warum muss ich mich leider, leider davon trennen? Begehrlichkeiten lassen sich auch wecken, indem man den Kund*innen vor Augen führt, was sie alles Tolles mit dem zu verkaufenden Objekt anstellen könnten. Ich entscheide mich für letztere Taktik und schreibe: „für die Fensterbank im Büro oder zu Hause“, „gut auch als Geschenk geeignet“. Und für alle, die immer noch nicht überzeugt sind, etwas Persönliches: „Ich kann den Übertopf auch für neue Ableger nutzen.“
Nur den wahren Grund, aus dem man etwas loswerden will, sollte man nicht ehrlich zugeben. „Weil mir der Rock nicht mehr passt“, „weil der Kaktus schief gewachsen ist und mich jedes Mal ganz verrückt macht, wenn ich ihn anschaue“, „weil ich mir ein Alternativprodukt von besserer Qualität gekauft habe“, „weil das Ding schon zu lange im Keller steht“ – wenn man das in die Kleinanzeige schreibt, denken die Kund*innen unweigerlich: „Vielleicht passt/gefällt/genügt es mir ja auch nicht“ und kaufen nicht.
Sie lieben, was ich nicht mehr mochte
Am Ende muss ich den Kaktus dreimal für sechs Wochen kostenlose Laufzeit einstellen, dann meldet sich Tim…

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Die ganze Kolumne „Mein Schottenrock für Jürgens Frau“ gibt es hier:
MaMagazine – Ausgabe No. 01/2025
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Inhalt
- Reportage: Liebeserklärung an einen Musikkeller (Seite 2)
- Reisebericht aus Ghana: Solomons Bucht (Seite 6)
- Gedicht: Melancholie eines Kindes (Seite 13)
- Rezension: Drei Film- und Serientipps zur Einstimmung auf deine Australien-Reise (Seite 14)
- Kurzgeschichte: Wielander im Keller und auf dem Dach (Seite 16)
- Kolumne: Mein Schottenrock für Jürgens Frau (Seite 20)
- Reportage: Die Flip Flop-Fische von Airlie Beach (Seite 23)
- Reisebericht aus Albanien: Fest auf dem Boden stehen und wachsen (Seite 26)
- Rezension: Sich vorurteilsfrei auf die Netflix-Serie „Supersex“ einlassen (Seite 31)
- Gedicht: Rosenfolter (Seite 35)
- Kurzgeschichte: Matteo und der Zauberer (Seite 36)
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