Beerkus & Nikolau: Jedes Selfie könnte das letzte sein

Skywalkers: A Love Story. Ivan Beerkus, Angela Nikolau in Skywalkers: A Love Story. Cr. Courtesy of Netflix © 2024.

Seit der Dokumentation „Skywalkers – Eine Liebesgeschichte“, die auf Netflix und in IMAX-Kinos läuft, sind Ivan Beerkus und Angela Nikolau als das „daredevil couple“ („Draufgänger-Paar“) in aller Munde und weltweit in den Medien. Zwei Russen in ihren 30ern, die auf Baukräne, Antennen, Turmspitzen und Masten auf den Dächern der höchsten Hochhäuser der Welt klettern und dort oben Selfies und Drohnenaufnahmen von sich machen. Inzwischen leben sie in New York. Wer ihnen jenseits der Kinoleinwand in den sozialen Netzwerken folgt, erlebt ein Künstlerpärchen zwischen kindlicher Naivität und unkonventionellen Ideen, zwischen altmodischen Rollenbildern und der Speerspitze moderner Kunst.

Ein junger Mann und eine junge Frau in sexy Klamotten liegen eng umschlungen auf der schmalen Dachkante eines Wolkenkratzers, hunderte Meter über der Erde. In ihrer Verletzlichkeit und ihrer Sucht nach dem Leben vereint, im Sonnenuntergang. Eine GoPro nimmt ein Foto von oben auf, auf dem sich der Horizont der städtischen Szene krümmt. Die Bilder von Ivan Beerkus und Angela Nikolau sind so ungewöhnlich, die Szenen so unfassbar für das Durchschnittsauge, dass sie niemanden kalt lassen. Unbestreitbar sind sie aber auch ziemlich kitschig, eine moderne Version der pinklastigen Delfin-mit-Liebespärchen-Paintbrush-Poster, die in den 1980/90er Jahren in Teenagerzimmern hingen. Man müsste sogar sagen sehr kitschig – wenn nicht das Risiko in jedem Bild mitschwingen würde. Das Risiko abzustürzen und zu sterben. Liebe und Tod, so nah beieinander. Das universelle Narrativ seit Romeo und Julia und Titanic. Jedes Selfie könnte das letzte sein.

Beweismaterial auf der GoPro-Kamera

Böse Zungen behaupten, die Bilder seien fake. Doch seit für die Dokumentation „Skywalkers“ ein ganzes Kamerateam dabei war, das die Aufstiege so gut es ging begleitet und von Nachbargebäuden gefilmt hat, kann zumindest als sicher gelten, dass Beerkus und Nikolau auf Wolkenkratzer steigen. Da sie auf ihren Klettertouren GoPro-Stirnkameras tragen, Drohnen und Selfiesticks dabei haben, gibt es jede Menge Beweismaterial. Und es ist auch insgesamt gut dokumentiert, dass es eine ganze Szene von so genannten Rooftoppern oder Urban Explorern gibt, die die Leidenschaft – wenngleich nicht die Erfolge – der beiden teilen. Sogar zwei tödliche Abstürze sind auf Kamera festgehalten (Wu Yongning und Remi „Enigma“ Lucidi).

Der Film „Skywalkers“ erzählt eine runde Geschichte: die Tochter eines Artistenpaars und ein Einzelgänger, die ein außergewöhnliches Hobby teilen, verlieben sich ineinander. Gegenseitig animieren sie sich zu immer herausragenderen Leistungen und machen ihre Leidenschaft zum Beruf. Bis irgendwann ihre Vorstellungen auseinanderdriften. Der Mann sucht das immer extremere Abenteuer, würde sich aber mit einem verhältnismäßig „schlichten“ Beweisfoto zufriedengeben. Die Frau, obwohl ihre Wagnisse ohne ihn wohl nicht so extrem wären, fordert ihn in lebensgefährlichen Situationen zu ausufernden Fotosessions und akrobatischen Kunststücken heraus, fängt an zu streiten. Die Liebe des scheinbar so perfekten Paares droht, daran zu zerbrechen. Der gemeinsame, spektakuläre Aufstieg auf die 679 Meter hohe Spitze des Merdeka 118-Hochhauses in Kuala Lumpur soll sie wieder kitten – und das klappt dann am Ende auch. Im Film, und wie es scheint, auch in der Realität, denn sie sind immer noch ein Paar, seit fast neun Jahren.

Aus psychologischer Sicht faszinierend

Doch wirklich faszinierend (aus psychologischer Sicht) wird es eigentlich erst jenseits dieser kinoreif aufbereiteten Geschichte. Es ist verblüffend, wie naiv Beerkus und Nikolau, zwischen immerhin 31 und 32 Jahre alt, im Alltag sind. Laut ihrer Instagram-Reels mieteten sie in New York, wo sie leben, seit in Russland die westlichen sozialen Netzwerke gesperrt sind, eine Wohnung und ein Atelier, weil sie glaubten, dass man das als Künstler so macht. Und waren dann ganz verblüfft, dass sie sich das gar nicht leisten können. Ich wiederhole: in New York! Sie schieben ihre riesige Katze in einem Kinderwagen durch die Stadt. Sie gehen mit versteckter Kamera in eine Galerie und fragen mit immer noch starkem russischen Akzent, ob man Interesse habe, mit ihnen zusammenzuarbeiten. Als ob das jemals jemandem Ruhm gebracht hätte, unangemeldet bei einer Empfangsdame vorstellig zu werden. „Wir akzeptieren keine neuen Künstler“, wiederholt sie denn auch ein ums andere Mal.

„Wie viele Absagen muss man kassieren, bevor es aufhört wehzutun?“, fragt Angela Nikolau auf ihrem Instagramprofil. Willkommen in der Welt der Kunst! Es war schon immer so und wird wahrscheinlich immer so bleiben, dass man praktisch darum betteln muss, sein Leben dafür einsetzen (seine Zeit darauf zu verwenden oder seine Gesundheit dafür zu riskieren) zu dürfen, andere zu inspirieren. Manche behaupten, nur aus dieser Not heraus könne Kunst überhaupt entstehen. Haben Beerkus und Nikolau wirklich geglaubt, die New Yorker Kulturszene habe nur auf sie gewartet? Nur weil sie die Tollkühnsten von allen sind (oder „risk-taking royalty“, wie ein Fernsehkommentar in „Skywalkers“ formuliert)? Es ist rührend, wie sehr sie diese Bestätigung brauchen. Malen kann man auch einfach so. Entweder guckt sich nachher einer die Bilder an oder eben nicht. Aber auf einen 679m hohen Wolkenkratzer zu klettern und dort oben die Hebefigur aus Dirty Dancing nachzuspielen (wieder so ein 80ies-Moment), wenn sich niemand dafür interessiert, wäre dann doch irgendwie sinnlos.

Teebecher und Kalender gibt es nicht

Vielleicht passt das klassische Galeriegeschäft auch einfach nicht mit der Onlinekunst der Rooftopper zusammen. Einen Shop mit großformatigen Postern für Teenager-Zimmer, Kalendern und Teebechern betreiben Beerkus (der mit bürgerlichem Namen Kuznetsov heißt) und Nikolau nicht. Stattdessen verkaufen sie die Originale ihrer Paarfotos auf Haustürmen als NFTs, also als gekennzeichnete digitale Unikate. Die gehen, so heißt es, für 7,69 Ethereum (31.700 Euro) weg. Angela bietet auf ihrer Website einige wenige Motive als signierte Einzeldrucke zum Preis von 69,95 Euro an, ein Bildband für 80 Dollar soll Ende 2025 bei Baron Books erscheinen. Dabei dürften die Kernzielgruppe ihrer Kunst eher weniger Bildungsbürger sein, die Kunstbücher auf Beistelltischchen stapeln, sondern Durchschnittsjugendliche und junge Menschen. Eben die, die sich in den 80ern und 90ern ein Delfinposter aufgehängt hätten. Da passen die Katzenohren-Mützen, die es unter dem Reiter „Accessoires“ in Angelas Shop zu erwerben gibt, von der Sache her schon besser – nur nicht vom Preis (130,95 Euro).

Mädchen wollen sein wie sie, als Identifkationsfigur taugt sie sehr gut. Sie ist hübsch, aber nicht makellos. Die dünnen Haare und die knabenhafte Figur machen einen normalen Menschen aus ihr – sodass man sich durchaus ausmalen kann, dass man auch selbst diejenige sein könnte, die da im roten Abendkleid auf dem Wolkenkratzer tanzt. Und natürlich möchte man einen Freund wie „Vanya“ haben, der selber absolut furchtlos auftritt (vielleicht gehört er sogar zu der sehr kleinen Gruppe von Menschen, deren Amygdala-Region im Hirn bei Gefahr keine Reaktion zeigt), aber in „Skywalkers“ einen ausgeprägten Beschützerinstinkt gegenüber seiner Kletter-Freundin entwickelt. Angela bekommt über den Wolken auch schonmal eine Panikattacke. Sie verliebt sich in dem Moment in ihn, als er nach dem Abstieg von der Notre Dame zurückkehrt, weil sie verhaftet wird, obwohl er hätte entkommen können. Das ist als Schema überhaupt nicht rebellisch oder avantgardistisch, sondern sehr klassisch.

Selbstportraits in grellem Lila und Pink

In letzter Zeit verkauft Angela Nikolau außerdem Öl-, Acryl- und Sprühfarben-Gemälde in grellem Lila und Pink. Selbstportraits mit Rollschuhen und Hochhäusern, die sie auf unzugängliche Dächer schleppt, um sie zu präsentieren. Auch diese Motive wieder sehr nah dran an besagten Delfinpostern aus den 1990ern. Warum sie, je älter sie wird, [WEITERLESEN]

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Das ganze Künstlerportrait „Beerkus & Nikolau: Jedes Selfie könnte das letzte sein“ gibt es hier:

MaMagazine – Ausgabe No. 02/2025

Inhalt

  • Künstlerportrait: Jedes Selfie könnte das letzte sein – Seite 2
  • Reisebericht aus Ghana: Wo sich die Seelen der Verstorbenen treffen – Seite 7
  • Kurzgeschichte: Uwe und das Mädchen – Seite 17
  • Rezension: Liebe und Anarchie – Seite 21
  • Gedicht: Szene in Rot – Seite 24
  • Kolumne: Wer will schon die weise, alte Morla sein? – Seite 25
  • Kurzfilmprojekt: „Nicht so viel darüber nachdenken, was andere von mir halten“ – Seite 28
  • Gedicht: Stilles Kind – Seite 31
  • Reisebericht aus Australien: Wo das harte Leben Kunst inspiriert – Seite 32
  • Kurzgeschichte: Matthias Ginnberger zittert nicht – Seite 37
  • Künstlerportrait: Drei junge Musikerinnen zum Niederknien – Seite 40
  • Travel report: Where a hard life inspires art – Seite 45

Beitragsfoto: Sundance Institute / Netflix